25

Ich mochte Trude Solbakken vom ersten Augenblick an. Sie wirkte auf mich wie ein robustes und gutmütiges Mädchen, von der Sorte, die fast alles überlebt.

Ich stieg gleich hinter der Sannerbru aus dem Bus. Hinter der Brücke floß der Fluß schnurgerade an der alten Spinnerei vorbei, die nach einer kurzen Karriere als Restaurant in den frühen achtziger Jahren in ein Fernsehstudio für eine der kommerziellsten Fernsehgesellschaften umgewandelt worden war. Ein Momument zerbrochener Illusionen.

Das Haus, in dem Trude Solbakken wohnte, gab auch keinen Anlaß zu großen Illusionen. Die grüne Wandfarbe hing in großen Fetzen von der rissigen Fassade. Im Erdgeschoß befand sich ein leerstehendes Geschäft mit übermalten Fensterscheiben, und nur eine ausgefranste alte Kodakreklame verriet, zu welcher Branche es einmal gehört hatte.

Wenn man das Treppenhaus betrat, durch eine braune Tür, die in den Scharnieren hing und quietschte, schief wie ein Junge in der Pubertät, spürte man den faden Geruch längst entwickelter Fotos, Bilder aus einem Leben, das viel länger als seit 1987 zum Trocknen gehangen hatte.

Das Treppenhaus war dunkel, nur von einer einsamen, nackten Glühbirne erleuchtet. Eine steile Treppe führte in den ersten Stock. Dort gab es überhaupt kein Licht, und ich mußte mich ganz nahe an das Schild beugen, um zu sehen, daß Solbakken an der Tür stand. Die Klingel zu finden dauerte auch eine Weile.

Als ich klingelte, sprang die Tür augenblicklich auf, als hätte sie auf der Lauer gestanden und nur auf mich gewartet. Aber das breite Lächeln, mit dem sie mich empfing, welkte schnell und blieb mit braunen Rändern und nur einem matten Widerschein des ersten Ausdrucks auf ihrem Gesicht hängen.

»Ja?«
»Störe ich?«

Ihr Blick glitt an mir vorbei, die Treppe hinunter. »Ich erwarte Besuch.«

»Mein Name ist Veum. Varg Veum. Ich habe ein paar Fragen zu dem, was damals, 1987, geschehen ist.«
Jetzt war das Lächeln ganz verschwunden. Sie trat einen Schritt vor, wie um mir den Zugang zur Wohnung zu versperren.
»Ja, ich spreche doch mit Trude Solbakken?« sagte ich schnell, um Zeit zu gewinnen.
Sie nickte und starrte mich aus klaren, hellblauen Augen an. Sie war ein kompaktes, kleines Doppelpaket von einer Blondine. Die breiten Schultern gaben ihr etwas Viereckiges, und der gedrungene kleine Kugelbauch verhieß Bauchmuskeln genug, um einen zur Vorsicht zu gemahnen; dieser kleinen Dame machte so leicht niemand etwas vor. Vor anderthalb Jahrzehnten hätte sie der furchteinflößende Mittelpunkt einer hart spielenden Handballmannschaft gewesen sein können. Und immer noch wäre ich ungern Schiedsrichter gewesen, hätte sie in einer Mannschaft mitgespielt.
Ihr Haar war entsprechend zerzaust, aus dem Nacken hochgezogen und zu einem Zwischending zwischen Knoten und Pferdeschwanz am Hinterkopf zusammengebunden. Sie trug verblichene Jeans, ein dunkelgrünes Polohemd und eine lässige braune Lederweste.
»Ich denke, die Polizei ist hiergewesen und hat mit dir geredet, über diesen Todesfall – gestern?«
»Nur am Telefon. Ich habe nicht … Woher kommst du? Von einer Zeitung?«
»Nein, ich – bin Privatermittler.«
»Und für wen?«
Eine gute Frage. »Für – Mons Vassenden.«
»Für wen? Den Namen hab’ ich noch nie gehört.«
Das hatte ich auch nicht erwartet. »Nein, er ist aus dem Vestland. Aus Bergen.« War wäre die korrektere Form gewesen, aber das behielt ich noch für mich. »Du weißt, wer ermordet worden ist?«
»Als ich mit der Polizei geredet habe, sagten sie, er sei noch nicht identifiziert.«
»Nein, das stimmt vielleicht.«
Sie warf erneut einen Blick ins Treppenhaus. Dann schenkte sie mir eine blasse Kopie ihres ersten Lächelns. »Hör zu, wir können nicht … Komm lieber herein.«
Sie hielt die Tür auf und führte mich in einen langen, offenen Flur. Durch einen Bambusvorhang wurde ich direkt in ein großes und überraschend helles Wohnzimmer geführt – verglichen mit der düsteren Stimmung im Treppenhaus. Die Wände waren weiß getüncht, behängt mit Textilkunst und Fotos. Die meisten davon schwarzweiß, einige farbig, und es gab von allem etwas: Nahaufnahmen von Menschen mit vielen Falten, Landschaftsaufnahmen aus dem Flachland im Osten,.
Nebel über schmalen Birken an irgendeinem stillen Waldsee und sonnenverbrannte Kornfelder vor kleinen roten Gehöften, riesige Schiffsrümpfe aus der Froschperspektive auf einer sturmgepeitschten Werft und starke Kerle vor glühenden Schmelzöfen in einem Stahlwerk – und den diskreten Akt einer gedrungenen Blondine, das Gesicht versteckt hinter den angezogenen Knien. Es hätte durchaus meine Wirtin sein können, in einem existentiellen Augenblick, mit dem Ehemann hinter der Kamera.
Sie blieb mitten im Zimmer stehen und kam gleich zur Sache. »Ich denke, du verstehst, daß ich darüber nicht besonders gern rede. Ich habe versucht, all das – hinter mir zu lassen.«
Sie hatte eine putzige kleine Nase. Ihr ganzes Gesicht war flach wie das eines Schoßhundes – oder als hätte sie irgendwann einmal richtig eins draufbekommen, nach meinen Informationen möglicherweise auf dem Handballfeld.
»Aber dir ist bekannt, daß ein Umschlag mit dem Namen deines Mannes am Tatort gefunden wurde?«
»Die Polizei hat es erwähnt.«
»Und du kannst dir nicht denken, warum?«
»Nein. Ich kann dir nur dasselbe sagen wie der Polizei. Ich habe keine Ahnung. Aber …«
»Ja?«
»Pål Helge hat im Laufe der Jahre Tausende von Fotos gemacht, in allen möglichen Auflagen. Einige Auftraggeber behalten die Bilder natürlich jahrelang – und meistens in dem Umschlag, den sie bekommen haben.«
»Da hast du ganz sicher recht. Ich habe ein Bild gesehen, das dein Mann einmal gemacht hat.«
Sie sah mich mißtrauisch an. »Ach ja?«
»1986. Vier Männer an einem Restauranttisch. Zwei Schweden. Der eine hieß Jansson.« Ich sah sie scharf an. »Schon mal gehört, den Namen?«
»Nein.«
»Sicher?«
»Ja.«
»Der andere hieß Loewe. Fredrik Loewe. Mit einer Norwegerin verheiratet. Merete Sjøwold. Aus Oslo. – Diese vielleicht?«
»Noch nie.«
»Der dritte war Preben Backer-Steenberg.«
»Ja, wer das ist, weiß ich. Ich glaube auch, Pål Helge hat ein paar Arbeiten für ihn gemacht. Oder für seine Firma. PREBAC A/S – oder so.« Sie runzelte die Stirn, um zu zeigen, daß sie nachdachte. »Ich frage mich gerade, ob nicht eine davon in Schweden war. Backer-Steenberg hatte großes Interesse an einem Industrieprojekt da drüben.«
»Ach ja? Weißt du noch, welches es war?«
»Nein.«
»Nicht einmal, welcher Industriezweig?«
»Nein, nein. Es – fiel mir nur gerade so ein. Es hat mich nicht sonderlich interessiert.«
»Außerdem war ein vierter Mann auf dem Bild, den ich noch nicht identifiziert habe.«
»Wenn du mir das Bild zeigen würdest …«
»Ich – hab’ es nicht mehr.«
Sie hob die Arme. »Tja, dann …«
»Aber ich habe guten Grund zu glauben, daß es genau dieses Bild war – oder eine Kopie davon –, was die Polizei in dem Umschlag in Janssons Zimmer fand.«
»Jansson? Der Schwede? War das der, der …«
Ich sagte schnell: »Ja, aber bitte – wenn die Polizei dich fragt, sag ihnen nicht, daß … Tu so, als ob du es nicht wüßtest.«
Sie sah mich schmunzelnd an. »Wäre das zu deinem Vorteil?«
»Ja.«
Sie lächelte leicht. Wir hatten die ersten Proberunden durchlaufen, der Kontakt war da. Ich nutzte die Gelegenheit für einen Einwurf von links. »Aber glaubst du, daß es eine Verbindung geben könnte zwischen diesem Foto und – dem plötzlichen Tod deines Mannes 1987?« Ihr Gesicht verdunkelte sich wieder. »Ich weiß, daß es die nicht gibt. Pål Helges Tod hatte ganz andere Gründe, und all das wurde vor Gericht geklärt.« Sie lächelte bitter. »Es war die gute alte Dreiecksbeziehung, und ich war das zufällige Opfer auf der Seitenlinie.«
Ich ging behutsam vor. »Magst du darüber reden?«
»Da gibt es nichts zu reden. Der Schuldige sitzt in Ullersmo, und seine Frau bekam keine Besuche von Pål Helge mehr.«
»Gab es – Beweise dafür, daß sie recht hatte?«
Sie sah sich mit einem sarkastischen Blick im Raum um. »Es gab Fotos!«
»Von beiden?«
»Von ihr!«
Mein Blick blieb an einem Aktbild an der Wand hängen. »Solche wie – dieses?«
Sie schüttelte den Kopf. »Viel direkter!« Sie hielt die Hände gegeneinandergedrückt vor mich hin, um sie dann auseinanderzuklappen, auf eine Weise, die kaum mißzuverstehen war.
»Und diese …«
»… hat ihr Mann gefunden! Es war für ihn wohl ein noch größerer Schock als für mich. Ich hatte so lange mit Pål zusammengelebt, daß ich seine Schwächen kannte!«
»Und hast nichts getan?«
»Wir – hatten Kinder. Ja, jetzt sind sie beide ausgezogen, aber sie haben sich gut entwickelt – dank …« Sie senkte für einen Moment den Blick.
»Und du – was für ein Leben lebst du?«
»Geht dich das was an?«
»Nein.«
»Eben!«
Sie saß da und sah mich mürrisch an. Dann sank die Temperatur, und das Lächeln schlich wieder hervor. Sie machte ein paar Schritte durch den Raum und blieb direkt unter dem Aktbild stehen, wie um sich mit ihrer Vergangenheit zu solidarisieren.
»Man kann immer neue Fotos machen, Veum. Wenn man nur den Blick für Motive hat.«
»Solange es einen Film gibt, gibt es Hoffnung?«
»So ungefähr.« Sie sah aus dem Fenster. »Das Leben hört nicht auf, weil jemand stirbt. Ein Abschnitt endet, gut. Der Turm schlägt einen Läufer, aber dadurch wirst du nicht schachmatt. Der Läufer wird vom Brett genommen, aber das Spiel geht weiter.«
»Für dich ist also das Leben ein Schachspiel, mit einem Sicherheitsnetz von festen Regeln?«
»Nein, Veum. Ich spiele wie ein echter Amateur. Da kann das absolut Unvorhersehbare passieren.«
»Und was wäre das Unberechenbare in diesem Fall?«
Sie sah mich an, reagierte aber nicht.
»Neue, plötzliche Tode?«
Sie preßte den Mund zu einem schmalen Strich zusammen, einer Demarkationslinie zwischen Lüge und Wahrheit, und sandte keine Unterhändler mit weißer Flagge herüber.
Ich hätte vieles fragen können. Aber ich tat es nicht. Sie hatte recht. Es ging mich nichts an.
Sie begleitete mich zur Tür, stand oben an der Treppe und sah mir nach, wie um sicherzugehen, daß ich auch wirklich verschwand.
Als ich unten die Haustür öffnete, begegnete ich einem Mann. Es war ein kräftiger, kompakter Typ in meinem Alter, mit dichtem grauem Bart und ebensolchem Haar, aus der Stirn nach hinten gestrichen und füllig über beide Ohren fallend. Er trug verschlissene Jeans und ein kariertes Flanellhemd wie ein Rocktexter aus den Siebzigern. Sein Blick war scharf und verwundert, als fragte er sich, wer ich sei und was ich dort zu suchen hätte.
Ich hätte mich das selbst fragen sollen. Und ich hätte ihr doch das Foto zeigen sollen, das ich in der Innentasche meiner Jacke mit mir herumtrug.

26

Von der Sannergate folgte ich den Wegen am Akerselv entlang bis hinunter zur Hausmanns Bru. Das Wetter spielte noch immer April, und die Aussichten für den morgigen Marathonlauf waren äußerst ungewiß. Es war alles möglich, vom Wolkenbruch bis zur Hitzewelle, und es hätte mich nicht überrascht, wenn es zu schneien begonnen hätte. Die Wetterlagen über uns hatten jetzt schon mehrere Jahre schief gehangen. In der Zeit des Ozonlochs war alles drin.

Unter der Ankerbru stand ein junger, dunkelhaariger Mann mit weißem Priesterkragen und sprach eindringlich mit einer Gruppe Obdachloser, die meisten davon Verwandte des Glöckners von Notre-Dame. Als ich vorbeiging, lächelte er mir freundlich zu, als würde er mich mit Freuden in der Herde willkommen heißen. Für den Moment lehnte ich dankend ab.

Ich hatte andere Sorgen.

In der Urtegate vergewisserte ich mich, daß das Haus, in dem ich am Tag zuvor mit Torleif Pedersen gewesen war, das richtige war. Ich ging in den ersten Stock, um herauszufinden, ob Grorud Inkasso A/S wiederaufgetaucht war, wie ein Vexierbild, das nur dann sichtbar wird, wenn die Sonne in einem bestimmten Winkel darauf fällt. Aber die Tür zu den Räumen war noch immer völlig anonym, und als ich klopfte, öffnete niemand.

Auf dem Weg nach unten begegnete ich einem kleinen, dunkelhäutigen Jungen, der, eine hellblaue Schultasche auf dem Rücken, mit rasender Geschwindigkeit die Treppe hinaufstürmte.

»Hei«, sagte ich und lächelte. Er sah mich scheu an und rückte ganz an die Wand, wie um mir zu versichern, daß er mir nicht im Weg sei.

»Wohnst du hier?«
Er nickte stumm.
»Wie heißt du?«
»R-R-Rhamid«, sagte er und sah ängstlich zu mir auf. Ich lächelte wieder. »In welche Klasse gehst du?«
»Die dritte, in der Lakkergate.«
»Du sprichst gut Norwegisch.«
»Ich bin Norweger!«
»Gut. Ich wollte dich fragen, diese Leute, die im ersten Stock

ein Geschäft haben – kennst du sie?«
»Ein Geschäft? Du meinst eine Firma?«
»Äh, ja.«
»Da ist keine Firma. Und da wohnt auch keiner.«
Ich zögerte. »Aber am Mittwoch war da so was wie eine

Firma.«
Er sah mich ernst an. »Ja, ich hab’ das Telefon drinnen klin
geln hören, aber ich dachte …«
»Ja?«
»Der gr-große Mann. Das ist der, der ab und zu dahin kommt.
Aber er hat keine Frau. Er hat …« Er sah zur Seite.
»Er hat da Frauen!« Plötzlich brach sein Gesicht auf, in einem

großen, blitzenden Lächeln. »Wir können sie hören, durch die Wand!«

Ich nickte und lächelte wie ein Vertrauter. »Aber, Rhamid, du weißt nicht, wie der große Mann heißt?«
Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein.« Dann lächelte er verschmitzt. »Schwarzer Peter vielleicht?«
Ich suchte in meinen Taschen und zog ein Zehnkronenstück heraus. »Hier. Danke dir. Kauf dir was, worauf du Lust hast.«
Er sah mit großen Augen auf die Münze. »Ein Fahrrad!«
»Ich fürchte, dafür wirst du noch ein bißchen sparen müssen.«
Er lächelte begeistert. »Ja, aber das tu’ ich auch! Ich habe bald zweihundert Kronen!«
»Mach’s gut, Rhamid.«
»Tschüs!« Er lief weiter nach oben, das Zehnkronenstück fest mit der Hand umschlossen, als hätte er Angst, ich würde es ihm wieder wegnehmen.
Ich trat wieder auf die Straße. Als ich sie überquerte, ungefähr bei der diskreten Moschee, hörte ich ein Auto starten.
Ich drehte mich halb um. Ein roter Ford mit Rostflecken, Baujahr Anfang der Achtziger, glitt an mir vorbei. Darin saßen vier dunkelhäutige Jugendliche, und hinter der Heckscheibe hing ein Fuchsschwanz. Keiner von ihnen sah in meine Richtung, und der Wagen bog nach links ab, in Richtung Tøyen.
Als ich die Vaterlands Bru überquerte, fuhr dasselbe Auto wieder vorbei, aber jetzt saßen nur noch zwei Leute darin.
Instinktiv drehte ich mich um. Zweihundert Meter hinter mir erblickte ich zwei Jugendliche in Lederjacken und mit dunklen Gesichtszügen, die in meine Richtung kamen. Es konnte Zufall sein, natürlich. Aber ich hatte keine Lust, stehenzubleiben und sie zu fragen.
Ich erhöhte mein Tempo. Bei der Lykkeberggate drehte ich abrupt zur Storgate ab, überquerte sie fünf Meter hinter einer Straßenbahn und zwanzig Zentimeter vor einem Taxi, woraufhin der Fahrer den Kopf aus dem Fenster streckte und mich im Vorbeifahren einen Idioten schimpfte – fünf Sekunden später. Ich widersprach ihm nicht.
Ich huschte in die Operapassasje und beschleunigte noch einmal auf dem Weg zum Youngstorg, sauste in die Torggate und lief kreuz und quer durch das Straßennetz nach Hammersborg hinauf.
Ich lief zur Rückseite der Deichmanske Bibliotek, wo ich stehenblieb und mich unter den dorischen Säulen verschnaufte. Die leeren Flaschen, abgebrannten Streichhölzer und plattgetretenen Zigarettenkippen um mich herum verrieten, daß hier öfter Leute rasteten.
An jeder Ecke hatte ich mich umgesehen, und ich war mir ziemlich sicher, daß mir im Augenblick niemand auf den Fersen war. Nachdem ich mich noch einmal vergewissert hatte, daß das auch stimmte, ging ich langsam zum Arne Garborgs Plass hinunter, an der Baustelle des neuen Regierungsviertels vorbei, und tauchte wieder in das Gewimmel und den Lärm der Stadt ein, ebenso zielbewußt wie eine fehlprogrammierte CruiseMissile.
Das Telefonbuch in einer Telefonzelle verriet mir, daß sich Oslos kommunale Grundstücksverwaltung im Økernvei befand. Ich nahm die U-Bahn von Stortinget nach Tøyen und suchte nach der richtigen Adresse, mit Erfolg.
Das kommunale Bürogebäude hatte zwei Flügel, und der Eingang lag in einem niedrigeren Mittelteil. Der rechte Flügel hatte fünf Stockwerke und lag an den Fjellhang nach Kampen gepreßt, mit Aussicht auf die wenigen übriggebliebenen alten Holzhäuser in Brinken. Der andere Flügel hatte acht Stockwerke und Aussicht auf die Kjølberggate.
Die Rezeption im Erdgeschoß war hell, mit rotbraunen Fliesen, weißen Betonsäulen, Glastüren mit blauem Rahmen und einer weich abgerundeten Schranke in hellbraunem Teak.
Dem ersten Eindruck nach war A/S OSLO & CO. ein gepflegter und stromlinienförmiger Betrieb.
Die Frau hinter dem Tresen machte auch keinen schlechten Eindruck. Sie hatte eine runde Brille und fast noch rundere Körperformen. Sie lächelte freundlich und wies mich zum linken Flügel, in den vierten Stock.
Die Frau, die am Informationsschalter von Oslos kommunaler Wohnraumverwaltung saß, war allerdings ein eher reservierter Typ, was durch die schmale, rechteckige Brille, die zusammengepreßten Lippen und die Art, wie sie das Kinn hob – als würde sie gleich zuhacken –, noch betont wurde. Aus irgendeinem Grund machte sie auf mich den Eindruck, als hätte sie ein schlechtes Gewissen. Entweder war das angeboren, oder aber sie wußte mehr über A/S OSLO & CO. als die Dame an der Rezeption.
Als ich sie friedfertig an ein paar Gesetzesparagraphen über Transparenz in der Verwaltung erinnerte, suchte sie flugs und beflissen die fraglichen Dokumente heraus, und ich durfte mich sogar damit an einen Tisch setzen, um sie genauer in Augenschein zu nehmen.
Die Papiere sagten mir, daß das fragliche Haus in der Urtegate zusammen mit zwei Nachbargrundstücken einer Frau namens Aud Finstad gehörte. Das Besitzrecht war ihr im Oktober 1987 von ihrem Mann, Thorbjørn Finstad überschrieben worden. Finstad selbst hatte die Häuser nur ein halbes Jahr besessen. Im März desselben Jahres hatte er sie von Preben Backer-Steenberg gekauft, zu einem Preis, der mir, realistisch und bei Tageslicht betrachtet, auffallend niedrig zu sein schien, besonders da die Transaktion mindestens sechs Monate vor dem großen BörsenCrash im Herbst desselben Jahres stattgefunden hatte.
Nachdem ich mir die Informationen, die ich meinte, gebrauchen zu können, notiert hatte, gab ich die Dokumente brav der pflichtbewußten Dame zurück. »Gibt es keine Liste der Mieter?«
»Hier nicht. Da müssen Sie zum Einwohnermeldeamt.«
Ich nickte und bedankte mich für die Hilfe.
Bevor ich ging, konnte ich nicht umhin, die Aussicht zu betrachten. Die Stadt lag vor ihr auf den Knien. Von hier oben aus betrachtet, schimmerte das Meer im Spiegel wie gespannte Seide.
Ich drehte mich zu ihr um. »Sag mal, gehört euch das alles – und noch das halbe Königreich?«
»Nicht alles«, sagte sie mit einem säuerlichen Lächeln.
»Nein, denn dann müßtet ihr mehr Geld haben, als man meinen sollte, wenn man sich die Haushaltsdebatten anhört.«
»Viel mehr« war ihr trockener Kommentar, und sie beugte sich demonstrativ wieder über eine Akte.
Ich fand den Weg hinaus. Die Dame an der Rezeption lächelte mir zu. Aber auch sie sagte nicht auf Wiedersehen.
Ich nahm die U-Bahn zurück zum Zentrum. Um mein Reisebudget etwas zu schonen, ließ ich das Mittagessen ausfallen und schloß mich der Reisparty des Oslo-Marathons im Zelt in der Holbergsgate an, zu der die Eintrittskarte ein Fünfzigkronenschein war.
An langen Tischen aufgereiht, konnten die Leute unbegrenzt Reis und Eintopf essen, während ein redseliger Mikrophonhalter für Unterhaltung sorgte und Teilnehmer suchte, die noch nie beim Oslo-Marathon mitgelaufen waren, die zum zehntenmal liefen, die mit Ehegatten liefen oder ohne Kinder, Großeltern, Frauen und andere Außenseiter, alle mußten auf die Bühne und von den Sponsoren milde Gaben entgegennehmen.
Ein TV-Team schwirrte umher und probierte Kamerawinkel für den späteren Abend aus, während ein Fünf-Mann-Orchester bedrohliche Pausen im Programm mit Tönen füllte.
Es war kaum möglich, in Ruhe zu essen, und noch weniger war Zeit, um mit dem Nebenmann Taktiken und Erfahrungen auszutauschen. Die meisten waren auch nicht zum Reden da, sondern um ihre Energiedepots aufzufüllen. Ich begnügte mich damit, meinen Hunger zu stillen.
Punkt 18.30 Uhr war ich zur Stelle in der Akersgate, wo sich Norwegen jeden Tag in zwei Teile teilt. Nämlich bei der Wahl einer der beiden großen Boulevardzeitungen des Landes, bei denen die Zuschauerquote im Fernsehen den Ausschlag dafür gibt, wer die Titelseiten füllen darf und wer mit einem Einspalter ohne Bild weit hinten vorliebnehmen muß; bei denen das Leben in Würfelaugen gemessen wird und sich alles, absolut alles auf einer Bewertungsskala von 1 bis 6 einordnen läßt.
Ich fragte mich, wie Ove Haugland sich in einer solchen Umgebung fühlte. Aber noch mehr fragte ich mich, was er mir zu erzählen hatte.

27

Ove Haugland war grau geworden, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, und das war auf dem Bildschirm gewesen während seines kurzen Aufenthalts in Marienlyst. Er war noch stromlinienförmiger, als ich ihn in Erinnerung hatte, und ähnelte noch mehr einem amerikanischen Präsidentschaftskandidaten als Montgomery Clift. Sein Anzug war dunkelgrau, ein italienisches Modell, der Schlips diskret und perlgrau. Das Krähensilber im Haar gab ihm einen Touch von reifer Weisheit, der in interessantem Kontrast zu seinem jugendlichen Gang stand und eher an einen alten Leichtathletikstar erinnerte, der noch recht gut in Form war, mittlerweile als Kommunalrat oder in einer vergleichbaren Disziplin.

Er kam aus dem Fahrstuhl, als steige er noch während der Fahrt von einer Rolltreppe. Sein Händedruck war fest und freundlich, das Lächeln etwas reservierter.

Mit einem schnellen Blick registrierte er, daß auch ich sechs Jahre älter geworden war, aber er kommentierte es nicht.
»Hast du gegessen, Veum?«
»Mehr, als mir guttut. Auf der Reisparty vom Oslo-Marathon.«
Er hob die Augenbrauen. »Läufst du mit?«
»Es sieht so aus, ja.«
»Das paßt eigentlich gut. Ich habe auch – dann gehen wir ein Bier trinken, oder?«
»Alkoholfrei für mich, bitte.«
»Bist du auf Entzug?«
»Nein, längst abgesprungen. Aber wegen des Laufes morgen.«
»Ach so. Aber du verträgst den Geruch?«
Ich nickte.
»Dann schlag’ ich vor, wir gehen direkt nach nebenan. Normalerweise ist es da um diese Tageszeit ruhig.«
Es ist eine Frage des Geschmacks oder der Gewohnheit, was man ruhig nennt. Nach der Atmosphäre des Lokals mit dem Namen Berlin zu schließen, mußte Ove Haugland die Einflugschneise von Fornebu friedlich nennen und ein Rockkonzert wie eine pastorale Symphonie erleben.
Der Vorteil war, daß es unmöglich war mitzuhören, was am Nachbartisch geredet wurde, und selbst am eigenen Tisch mußte man auf höchst intime Weise die Köpfe zusammenstecken, um miteinander zu kommunizieren. Wir kamen einander so nahe, daß ich feststellen konnte, daß Ove Haugland ein völlig anderes Rasierwasser benutzte als ich, und er hatte seins auf keinen Fall in der Drogerie gekauft.
Wir bestellten jeder ein Glas im Gedränge an der Bar, er ein Pils, ich ein Leichtbier, und ließen uns an einem Tisch in einer Ecke nieder, wo es genauso dunkel war wie im übrigen Lokal.
Wir befanden uns in einem Keller, spärlich beleuchtet und schwarz gestrichen, mit Ausnahme einer signalroten Telefonzelle in der Ecke. Durch die rechteckigen Fenster unter dem Dach sahen wir die Füße der Leute, die draußen vorbeigingen. Das gab mir das beklemmende Gefühl, ein Fisch in einem Aquarium mit sinkendem Wasserspiegel zu sein.
Wenn er mit ruhig gemeint hatte, daß noch nicht viele Gäste da waren, dann hatte er recht. Aber die da waren, waren Männer, alle aus einer klar begrenzten Altersgruppe, ungefähr zwischen fünfundzwanzig und fünfzig, und alle hatten etwas gemeinsam, das sie wie eineiige Mehrlinge wirken ließ: eine auffällige Mischung aus Intensität und Distanziertheit. Das Kinn glattrasiert, Kurzhaarfrisur, gefärbtes Haar und schwarz gekleidet, die meisten in Leder, abgesehen von dem einen oder anderen Dressman wie Ove Haugland. Die Blicke, die sie uns zuwarfen, waren so direkt, daß es schwierig war, nicht zurückzustarren. Aber das wäre kaum sehr smart gewesen.
Viel weniger hätte gereicht, um des Ehebruchs verdächtigt zu werden.
Ove Haugland hob sein Glas. »Und wie geht’s so im Freistaat Bergen?«
»Die örtliche Erste-Liga-Fußballmannschaft hat ihren Schweden gewechselt, der Verkehr übt sich im Erliegen, Sissel Kyrkjebø* soll die Solveig in Ibsens Peer Gynt spielen, und der Bürgermeister kommt immer noch aus Finnmark. Wie soll es da anders als multikulturell zugehen?«
»So weit kann ich dich jedenfalls trösten: Oslo ist eine Bananenrepublik.«
»Und Svein Grorud einer der Gorillas?«
Er beugte sich näher zu mir. »Hast du was über ihn?«
»Ich würde verdammt gern mal mit ihm reden.«
»Niemand redet mit Svein Grorud. Nicht ohne den schwarzen Karategürtel, und selbst dann würde ich es nicht unbedingt empfehlen.«
»Ich habe den schwarzen Gürtel im Wortfechten.«
»Das glaub’ ich gern, aber das liegt an deiner Herkunft. Erzähl mir, worum es geht.«
»Ich habe jemanden übers Fjell begleitet, um ihn moralisch zu unterstützen, wenn er Svein Grorud seine Schulden bezahlte, und das einen Tag zu spät.«
Er pfiff lange und respektvoll.
»Wir haben bezahlt, der Mann nahm den Zug nach Hause,

* Sopranistin und einfaches Mädchen vom Lande, die erst vor wenigen Jahren entdeckt wurde, seit der Winterolympiade in Lillehammer jedoch auch in Deutschland bekannt ist. Zur Zeit in Norwegen sehr populär, unter anderem als Interpretin von Folklore, kirchlichen Liedern und modernem Jazz, z. B. von Jan Garbarek.

kam aber nie an. Und Svein Grorud ist untergetaucht.« »The same procedure as last year. Das letzte Mal fuhr er für
drei Monate auf die Kanaren, bis der Rummel vorbei war.« »Das letzte Mal?«

»Das letzte Mal, als jemand den Zug nahm und nie ankam. Alle wissen, was Svein Groruds Metier ist. Das kann einen alten Hasen wie dich nicht überraschen, Veum.«

»Was heißt alter Hase? Ich bewache Leute, ich zerschmettere ihnen nicht die Kniescheiben.«
»Eben. Du weißt, was sein Metier ist. Die brutalste Geldeintreibung im ganzen Land. Man schuldet Svein Grorud kein Geld und zahlt unpünktlich. So was ist in seinen Statuten nicht vorgesehen.«
»Eigentlich war das Geld aber von jemand anderem geliehen. Diesem Axel Hauger, den ich erwähnt habe. Aber Grorud hatte die Eintreibung übernommen. Hast du was über ihn gefunden?«
»Axel Hauger war denen, die ich gefragt habe, unbekannt. Wir haben ihn nicht im Archiv. Jemand meinte, er hätte seinen Namen mal in Zusammenhang mit Pferden fallen hören, aber das müßte in jedem Fall überprüft werden.«
Als er meinen enttäuschten Gesichtsausdruck sah, fügte er rasch hinzu: »Aber Preben Backer-Steenberg, das ist ein interessantes Kerlchen.«
»Was weißt du über ihn?«
»Rein lexikalisch. Geboren 1949, bestes Westend. Abitur in Ris, 1969, ein Jahr verspätet, weil er ein Jahr als Stipendiat in den USA war. Militärdienst bei der Garde Seiner Majestät 1970. Brachte eine wohlerzogene Trophäe aus den feineren Bergenser Kreisen mit nach Hause, genannt Anne Katrine, mit der er zwei Kinder bekam und nach wie vor in bester Eintracht zusammenlebt. Übernahm einen Teil des Familienbetriebs, Waffentechnologie, stellte ihn aber radikal um aufs Ölgeschäft, was den Betrieb ganz nach oben brachte. Ende der Siebziger, während des großen Ölbooms. Ein paar Jahre später, 1985, gelang ihm der endgültige Durchbruch auf dem Devisenmarkt. Er kontrolliert eine große Anzahl von Gesellschaften, sowohl hierzulande als auch im Ausland, und er kam bei der Jahrhundertflaute 87/88 einigermaßen unbeschadet an Land. Von Banken und Versicherungen hat er sich ferngehalten, schlauerweise; ums Reedereiwesen hat er einen Bogen gemacht, aber als Finanzmakler gilt er als einer der Knallhärtesten, schonungslos am Ball und mit verdammt guter Nase. Privat ist der Klassenliebling Segler und Marathonläufer – aha, ist das ein Anknüpfungspunkt, vielleicht??«
»Vielleicht.«
»Theaterlöwe, aber immer mit Gattin, Sommerhaus in Tjøme, Hütte in Geilo, faltenfreie Fassade – ein richtiger Goldjunge mit anderen Worten.«
»Du klingst nicht, als seist du überzeugt.«
»Nein?« Er räusperte sich. »Das hat wohl mit bitterer Erfahrung zu tun.«
»Also keine Ungereimtheiten im Lebenslauf?«
»Er ist einer der Großen auf dem Osloer Immobilienmarkt. Vor ein paar Jahren sagte man ihm nach, er habe eine besondere Fähigkeit, seine Kontakte zum Rathaus zu nutzen, woraufhin er zum Beispiel von der Galerie Oslo die Finger ließ. Aber es war unmöglich, ihm was Handfestes zu beweisen. – Hast du vielleicht was in der Hinterhand?«
Ich beugte mich näher zu ihm. »Ich habe äußerst gute Gründe anzunehmen, daß er erpreßt wird. Und zwar auf Leben und Tod.«
»Was? Und von wem?«
»Axel Hauger, zum Beispiel, woher auch immer der kommt.«
»Kannst du das beweisen, Veum?«
»Nein.«
»Denn ich kann dir sagen: Backer-Steenberg hat viel zu verlieren. Der fällt im Zweifelsfalle tief.«
»Wenn jemand ernsthaft was gegen ihn in der Hand hat, meinst du?«
»Warum sollten sie ihn sonst erpressen?«
»Na ja … Axel Hauger kämpft auf schwedisch. Hast du was über Fredrik Loewe gefunden?«
»O ja. Einer der Größten in Schweden, in der Waffenindustrie. Loewes und Backer-Steenbergs Väter hatten gemeinsame Besitzanteile an norwegischen wie schwedischen Firmen, und Backer-Steenberg selbst, jetzt meine ich den Senior, war ein wichtiger Teilhaber in Loewes Muttergesellschaft, AB Lejon Vapen. Der Junior brach diese Zusammenarbeit 1987 ab.«
»Er interessierte sich nicht für Waffen?«
»Er sah wohl das dickere Geld im Öl, zu der Zeit.«
»Aber Loewe ist tot, oder?«
»Ja. Er starb 1988 bei einem Autounfall.«
»Und seine Frau?«
»Über sie stand da nichts.«
»Sie war Norwegerin, und der Mutter zufolge starb sie im Jahr darauf, 1989.«
»Aha. Aber da war Backer-Steenberg bereits aus dem Rennen.«
»Geschäftlich, ja.«
»Gut, darüber reden wir doch, oder?«
»Ja. Ich denke schon.«
Ove Haugland hielt sein leeres Glas in die Luft. »Ich nehm’ noch eins. Und du?«
»Okay. Noch eins, das gleiche.«
Er stand auf und ging zum Tresen. Das Lokal hatte sich jetzt etwas mehr gefüllt. Aber noch immer waren die Männer deutlich in der Überzahl. Unter den Blicken, die einige in meine Richtung warfen, als es so aussah, als würde Haugland gehen, fühlte ich mich wie eine Jungfrau aus Drangedal, die sich in die schlimmste Aufreißerkneipe der Stadt verirrt hat. Im Geiste sah ich mich schon mit der Tasche auf dem Schoß sagen: »Nein – nein! Nein, hab’ ich gesagt!«, wie es mir meine alte Mutter einmal beigebracht hatte. Von den beiden einzigen Frauen im Lokal war auch nicht viel Hilfe zu erwarten. Sie interessierten sich ausschließlich füreinander.
Auf dem Weg von der Bar zu mir zurück blieb Ove Haugland stehen und sprach kurz mit einem gut gebauten, kräftigen Typen in dunklem Rollkragenpullover und engen, schwarzen Lederhosen. Der Typ sah mich an, nickte verständnisvoll und tätschelte Ove Haugland freundschaftlich den Oberarm.
»Bist du oft hier?« fragte ich so ganz nebenbei, als Ove Haugland sich wieder setzte.
»Ziemlich«, antwortete er, als sähe er eigentlich keinen Grund, eine solche Frage zu stellen.
Ich kam zu unserem Thema zurück. »Diese Informationen über Fredrik Loewe, hast du die über einen schwedischen Kontakt?«
Er nickte. »Ich kenne jemanden bei der größten Stockholmer Zeitung.«
»Hast du ihn auch nach Pär Elias Jansson gefragt?«
»Es ist eine Sie. Und die Antwort ist ja. Aber da wurde sie plötzlich sehr vorsichtig.«
»So?«
»Nicht am Telefon, sagte sie.«
»Ach? Das is’ ja ’n Ding.«
»Allerdings. Sie war sehr kurz angebunden. Wer ist dieser Jansson?«
»Du hast von dem Typen gelesen, der, äh, aus dem neunzehnten Stock des Oslo Plaza gefallen ist?«
»Ja, Mensch, echt, ich hätte nicht gedacht, daß man aus einem solchen Gebäude fallen könnte, ohne daß …«
»Ohne daß einem jemand hilft, das hast du doch gedacht, oder? Aber dieser Mann war P. E. Jansson. Dem Vernehmen nach ein schwedischer Kollege von Svein Grorud.«
»Ein Geldeintreiber?«
»So was Ähnliches.«
»Dann ist er noch nicht tief genug gefallen.«
Ich steckte die Hand in die Innentasche meiner Jacke. »Ich hab’ hier ein Foto, das dich vielleicht interessieren wird.«
Ich reichte es ihm. Er legte es vor sich auf den Tisch und beugte sich darüber.
Dann zeigte er auf eine der Personen und blickte zu mir auf.
»Das ist Loewe, stimmt’s?«
»Genau.«
»Ich hab’ ihn von einem Archivbild her wiedererkannt.« Er bewegte den Finger weiter. »Backer-Steenberg … Finstad … Aber wer ist …«
»Entschuldige, was hast du gesagt? Finstad?«
»Ja? Du hast mich doch selbst nach ihm gefragt. Der Mann da, das ist Thorbjørn Finstad. Ich war sicher, daß du …«
»Nein, eben nicht. Ich hatte keine Ahnung, welcher Finstad war.«
»Und der Vierte im Bunde, das ist …«
»Das ist Jansson.«
Wir saßen beide da und starrten auf das sechseinhalb Jahre alte Bild, als wäre es ein Originalfoto der vier Evangelisten und wir wären die ersten, die es zu sehen bekämen.
»Aber Finstad sitzt im Bau.«
»Ehrlich?«
»Wußtest du das auch nicht? Was …« »Nein.«
»… weißt du eigentlich?«
»Viel zuwenig, offenbar.«

28

»Thorbjørn Finstad ist eine interessante Persönlichkeit, Veum«, sagte Ove Haugland und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Bierglas. »In dem Spinnennetz, das man Oslo nennt, saß er ein paar Jahre an sehr zentraler Stelle.«

»Spinnennetz? Was meinst du damit?«

 

»In einem seiner Bücher schreibt Dashiell Hammett über eine

Stadt namens Poisonville. Frei übersetzt wäre das wohl so was wie Giftstadt. Vielleicht sollte man langsam ein entsprechendes Synonym für Oslo suchen.«

»Hast du einen Vorschlag?«
»Wie gut kennst du die Stadt, Veum?«

»Äußerst oberflächlich. Ich hab’ hier ein Jahr lang gewohnt, von 64 bis 65.«

»Dann mußt du doch gemerkt haben, wie sie sich verändert hat, oder?«
»Welche Stadt hat das nicht? Sogar Ber …«
»Es gibt graduelle Unterschiede, Veum. Du mußt doch … Wenn du durch den Teil der Karl Johan, Richtung Oslo S. gehst, gegen Abend, merkst du dann nicht, wie es dort vor Aggression nur so vibriert? Oder in der Torggate am späteren Abend, bist du da nicht die ganze Zeit auf der Hut? Ich glaube, Hand aufs Herz, daß Oslo eine der unharmonischsten Städte ist, die ich kenne, eine Stadt in permanentem Kriegszustand mit sich selbst. Mit all der blinden Gewalt, die sich in diesen Straßen nachts abspielt, sollten wir lieber einen Boxhandschuh im Stadtwappen tragen als Sankt Hallvard.«
»Aber ist das, wovon du da redest, die Aggression, die Gewalt auf der Straße, nicht nur ein Symptom?«
»Doch, eben. Und für was? Eben das – daß Oslo eine der am schlechtesten verwalteten Städte des Landes ist, eine Stadt, die sie geradewegs in den Graben fahren. Wir hatten hier das Pech, die rechtsradikale Fremskrittsparti mit in der Regierung zu haben, in Koalition mit den Osloer Konservativen, die sich an Parteichef Willochs Schlagwort orientierten: Laßt tausend Aktiengesellschaften blühen. – Und die haben die Stadt trockengelegt. Sie hoben Gruben aus und gruben unterirdische Wege, rissen Jugendstilviertel und hundert Jahre alte Schulen ab – Gruben, die so tief waren, daß sogar Galionsfiguren hineinfielen. Einer der populärsten Bürgermeister mußte abdanken wegen des Vorwurfs der Korruption.«
»Aber …«
»Sie haben so hohe Hochhäuser gebaut, daß …«
»… einige herunterfielen und zerschmettert wurden?«
»Genau.«
»Aber war das alles nicht schon, lange bevor Høyre und …«
»Allerdings. Stimmt genau. Und die Symbolfigur genau hierfür, mehr als irgendein anderer, war Thorbjørn Finstad.«
»Erzähl.«
»Thorbjørn Finstad hatte, was man in den Siebzigern die richtige Klassenzugehörigkeit nannte, vielleicht etwas zu richtig im Vergleich zu denen, die blufften, indem sie sich in Slangausdrücken ergingen und dick Umgangssprache auftrugen.
1937 geboren, aufgewachsen in Enerhaugen – noch ein Stück Oslo, das sie dem Erdboden gleichgemacht haben –, Eisenbinder von Beruf und ganz vorn an der Front, als in den Fünfzigern der Nachkriegs-Bauboom einsetzte. Hoher Gewerkschaftsfunktionär, stellvertretendes Parlamentsmitglied in zwei Legislaturperioden …«
»Für Arbeiderpartiet?«
»Für wen sonst? Startete 62 eine eigene Firma und geriet gleich in den Konjunkturaufschwung der siebziger Jahre.«
»Firma im Baugewerbe?«
»Bauunternehmen, ja. Mit großen Aufträgen von der Kommune. Er wußte sich alte Parteikontakte zunutze zu machen, und als der Umbruch kam – ich meine der politische –, war er so hoch oben auf der Leiter, daß er sich auch unter neuen Freunden wohl fühlte, sozusagen. Und deshalb meine ich, daß er an zentraler Stelle saß, im Spinnennetz. Er hatte in jedem Lager ein solides Standbein, er ritt auf zwei ungebändigten Pferden unzählige Runden durch die Manege, ohne herunterzufallen. Keine Wand wurde bewegt, unter am Youngstorg, ohne daß Thorbjørn Finstad mit von der Partie war, und im Rathaus wurde keine einzige Fliese ausgewechselt, ohne daß man ihn erst um Rat fragte.«
»Aber – jetzt sitzt er also im Bau?«
»Ja.«
»Weswegen?«
»Wegen etwas so Trivialem wie ein Mord aus Eifersucht.«
»Also hat Thorbjørn Finstad … Pål Helge Solbakken, stimmt’s?«
Er nickte. »Wie gesagt, als du Solbakken am Telefon erwähntest … Ich war mir sicher, daß du das alles wüßtest, Veum.«
»Kannst du erzählen, was du darüber weißt, wenigstens stichwortartig?«
»Okay. Pål Helge Solbakken wurde an einem Dienstagabend im März 1987 in seinem Atelier erschlagen. Und wenn ich erschlagen sage, dann meine ich erschlagen. Nur mit den Fäusten
– ein typischer Mord im Affekt. Spuren am Tatort und Zeugenaussagen führten dazu, daß Thorbjørn Finstad schon zwei Tage später gefaßt wurde, mit auffällig geschwollenen Handknöcheln. Weitere Indizien, zusätzlich zu einigen Fotos – von Finstads Frau, Kunstfotos, wenn du verstehst, was ich meine –, führten dazu, daß Finstad ein volles Geständnis ablegte. Es stellte sich heraus, daß seine Frau ein Verhältnis mit Solbakken gehabt hatte. Vor Gericht setzte die Verteidigung stark auf die Eifersuchtsschiene und behauptete, das Ganze sei im Affekt passiert.«
»Wer vertrat ihn?«
»Ein Kind dieser Stadt. Asbjørn Hellesø.«
»Asbjørn Hellesø … Der auch Backer-Steenbergs Anwalt ist. Backer-Steenberg, der auf dem Foto da, in Anwesenheit von Loewe und Finstad, P. E, Jansson, der wiederum tot ist, einen Umschlag mit unbekanntem Inhalt überreicht. Aber wo ist die Verbindung all dieser Geschichten – wenn es eine gibt?«
»Auf jeden Fall Asbjørn Hellesø.«
Ich nickte. »Mit dem habe ich schon geredet. Jetzt muß ich es wohl noch einmal tun. Wie lautete das Urteil für Finstad?«
»Zwölf Jahre, zusätzlich zu einer soliden Schadenersatzsumme für Solbakkens hinterbliebene Frau und die Kinder. – Das konnte er sich leisten«, setzte er trocken hinzu.
»Und er sitzt in Ullernsmo, wie ich höre?«
»Genau.«
»Seine Frau – erinnerst du dich an ihren Namen?«
»Seit wann interessierst du dich für Kunstfotos, Veum? Aud, glaube ich. Aud Finstad.«
»Stimmt. Und es gab nie einen Zweifel an seiner Schuld?«
»Wie gesagt, er legte ein volles Geständnis ab.«
»Hm.« Ich legte den Finger auf Janssons Kopf. »Und dein schwedischer Kontakt … Könntest du sie anrufen und versuchen, einen Termin zu bekommen? Ich würde sie gern mal treffen.«
»In Stockholm?«
»Wo auch immer.«
»Okay. Ich kann versuchen, sie privat zu erreichen, morgen. Wolltest du da nicht Marathon laufen?«
»Ja.«
»Hör zu, wenn wir uns eh auf diesem Eis befinden …«
»Auf welchem Eis?« Ich sah mich um. »Diesem hier?«
»Nein nein. Oslo im freien Fall. Ich habe zwei Karten für die neueste Attraktion. Morgen abend. Nennt sich PLAY-TIME. Ich denke, gerade das solltest du dir nicht entgehen lassen. Zur Zeit des Verfalls des Römischen Reiches haben sie es nicht besser gemacht.«
»Aha? Und wann sollen wir uns treffen? Und wo? Nicht hier?«
»Die Bibliotheksbar im Bristol ist vielleicht eher dein Stil?«
»Möglich.«
»Neun Uhr?«
»Neun Uhr.«
Er hob sein Bierglas mit derselben Geste wie vorher. »Mehr, Veum?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich habe genug für heute. Du hast mir ganz schön viel zu sortieren gegeben.«
Er nickte zur Tür. »Und sei vorsichtig da draußen.«
»Nach allem, was du erzählt hast, weiß ich verdammt noch mal nicht, ob ich mich rauswage.«
Aber ich tat es. Das Lokal war jetzt voll bis zum letzten Stehplatz, und auf dem Weg zum Ausgang bekam ich mehr als eine Einladung, doch zu bleiben, meistens durch Blicke, aber auch durch flinke Finger. Ich widerstand der Versuchung und kämpfte mich wieder an die Oberfläche.
Die Kneipe mit dem Namen Berlin lag in einer halbdunklen Seitenstraße, und sie trug ihren Namen mit Stolz. Ein lila Neonschild warf ein verlorenes Licht über den Bürgersteig vor dem Eingang, der Baßrhythmus der Musik klopfte wie ein dunkler Pulsschlag durch das ganze Viertel, und die Leute, die vorbeigingen, taten es eilig, auf der anderen Straßenseite.
Oben an der nächsten Straßenecke, genau vor einer spärlich beleuchteten Baustelle, hing eine einsame Straßenlaterne und schwankte in einem plötzlichen Windstoß.
Von Pilestredet her hörte man den Verkehr dröhnen, in den Tunnel hinein und wieder heraus, von dem Verkehrsring, den sie ironischerweise nach Henrik Ibsen benannt hatten, möglicherweise als eine Art Aufforderung, der Devise des Dichters zu folgen: Geht außen herum, sagte Bøygen*.
Aber in dieser Straße war kein Auto zu sehen, und gerade jetzt auch kaum ein Mensch. Außer mir.

* Zitat aus Ibsens Peer Gynt.

29

Die schwankende Straßenlaterne gab einen quietschenden Laut von sich, als wetzte gleich um die Ecke jemand seine Messer.

Ich ging in die entgegengesetzte Richtung, auf den Lichtstrom unten in der Karl Johan zu. Hinter mir hörte ich Schritte, aber …
Ich drehte mich schnell herum.
… nicht in meine Richtung.
Die Straße schien leer. Nur zwei Autos parkten am Rand, mögliche Verstecke. – Ich ritt einsam über den Paß, und niemand konnte sich geschickter verbergen als die Apachen.
Ich ging weiter und sah mich immer wieder um.
Als ich um die Ecke zur Kristian IV’s Gate einbog, stieß ich mit einem mir entgegenkommenden Typen zusammen. Wir schraken beide zusammen. Vielleicht hatte er Ove Hauglands Vortrag über die Verrohung in Oslos Seitengassen auch gehört, denn er sah aus, als befürchtete er das Schlimmste.
Ich entschuldigte mich und überquerte die Straße. Er zog erleichtert weiter.
Oben in der Straße, die ich gerade verlassen hatte, tauchte laut johlend eine Jugendgang auf, aber ihr Kurs war ein anderer als meiner.
Sonst sah ich niemanden.
Ich fühlte eine fast physische Erleichterung, als ich auf den breiten, erleuchteten Bürgersteig der Karl Johan kam. Dies war der angeblich sicherste Teil, bei der Lichtung zwischen Slott und Storting, das Repräsentativste, was die Stadt zu bieten hatte. Hier lagen das edelste Hotel, die teuersten Restaurants, die größte Buchhandlung, der exklusivste Goldschmied und die älteste Universität des Landes.
Ein flutlichtbeschienener Ibsen warf einen scharfkantigen Schatten auf die Fassade des Theaters. Deutlich frischere norwegische Dramatiker führten sie dort auch selten auf.
Ich holte meinen Koffer aus dem Schließfach an der U-BahnStation hinter dem Theater, diskret überwacht von zwei unrasierten Dreizehnjährigen in Lederjacken, denen mit deutlichen, großen Buchstaben Stricher quer über das Gesicht geschrieben stand.
Niemand folgte mir in den Untergrund, und niemand fuhr in dieselbe Richtung. Zu dieser Tageszeit floß der Strom in die andere Richtung.
Bis Majorstuen war ich allein im Abteil. Dort stiegen ein älteres Ehepaar mit vollen Plastiktüten und zwei ungefähr zwölfjährige Schuljungen mit um den Nacken gehängten Fußballschuhen zu.
In Hovseter stieg ich aus. Als ich die Straße überquerte, entdeckte ich aus dem äußersten Augenwinkel ein rotes Auto.
Ich drehte mich etwas um und sah hin.
Es war ein rostfleckiger Ford Escord. Er stand fünfzig Meter weiter am Straßenrand, und ich erkannte die Silhouetten von zwei Personen auf den Vordersitzen.
Ich vergrößerte meine Schritte und ging rasch in die entgegengesetzte Richtung, den Gamle Hovsetervei hinaus.
Hinter mir hörte ich zwei Autotüren zuschlagen.
Ich erhöhte das Tempo noch mehr und warf einen Blick zurück. Zwei dunkelhäutige Jugendliche in schwarzen Lederjacken kamen mir hinterher.
Ich näherte mich von hinten einem Hundebesitzer. Weiter unten überquerte eine Jugendgang eine Fußgängerbrücke.
Ich holte den Hundebesitzer ein. Der Hund, ein langgestreckter Cockerspaniel, schnupperte vorsichtig an meinem ihm nächsten Hosenbein, während der Besitzer, ein Mann Ende Fünfzig mit grauem Haar und rotkarierter Sportjacke, an der Leine zog und einen ängstlichen Blick in meine Richtung warf.
Wieder drehte ich mich um und sah zurück. Die beiden hinter mir waren sehr langsam geworden und sprachen miteinander.
Der Hundebesitzer wechselte auf die andere Straßenseite, als hätte er Angst, in etwas Unangenehmes hineingezogen zu werden.
Ich sah wieder nach vorn.
Die Jugendgang aus Hovseter war dieselbe, auf die ich am ersten Abend getroffen war. Aber jetzt hatten sie keine Zeit, Autoantennen zu demolieren. Sie blickten starr sowohl an mir als auch an dem Hundebesitzer vorbei. Mit einer Gangart, die sie in schlechten amerikanischen Thrillern aufgeschnappt hatten, verteilten sie sich über die ganze Breite der Straße wie eine Menschenkette. Dann liefen sie los.
Ich sah ihnen nach. Die beiden aus dem roten Auto hatten kehrtgemacht und liefen mit Riesensprüngen zurück in Richtung Stasjonsvei.
Gleich darauf hörte ich einen Motor aufheulen und sah das Auto als einen roten Streifen vorbeifahren, gerade noch rechtzeitig, um den Verfolgern zu entkommen.
Ich sah mich nach jemandem um, mit dem ich das Erlebnis hätte teilen können. Aber der Hundebesitzer war schon weit oben zwischen den Blocks, wie ein verwundeter Kriegsberichterstatter zurück von einem Schlachtfeld, zu dem geschickt zu werden er nie gebeten hatte.
Ich folgte ihm, ging hinüber zum richtigen Block und schloß die Haustür auf.
Drinnen blieb ich stehen und atmete tief durch, bevor ich zu den Fahrstühlen ging.
Mit dem Gefühl, etwas Unerlaubtes zu tun, schloß ich die Tür zu ihrer Wohnung auf. »Hallo? Marit?«
Sie antwortete aus dem Wohnzimmer, und wir trafen uns in der Tür.
Sie war in Dunkelblau an diesem Abend und trug einen dieser engsitzenden Strampelanzüge für Frauen, After ski-Anzug hieß das sicher in Geilo, ein Ganzkörper-Hosenanzug, der wie Neuschnee auf ihrem Körper lag. Er war vorn zu öffnen, und der Reißverschluß saß in offenherziger Position zwischen ihren Brüsten.
Im Wohnzimmer stand die Musikanlage auf volle Pulle, und in dem halboffenen Holzofen glühten noch ein paar massive Scheite. Ein Streichquartett erfüllte den Raum mit einem dunklen Wohlklang. Es war ein Musikstück mit dramatischen Passagen, wie ein steiler Abstieg vom Hochfjell mitten in der Nacht.
»Schubert?« fragte ich.
Sie nickte überrascht. »Der Tod und das Mädchen«, sagte sie in unheilverheißendem Ton.
»Lustige Töne für einen Freitagabend?« sagte ich leichthin.
Aber ihre Angespanntheit war nicht zu übersehen.
»Eine Tasse Kaffee? Ein Glas Likör?«
Ich zögerte einen Augenblick. »Ja, gern. Ein Glas schadet wohl nicht.«
Sie sah mich verwundert an. »Wieso?«
Ich lächelte hilflos. »Ich werde morgen den Marathon mitlaufen.«
»So?«
»Jemand braucht Begleitung. Preben Backer-Steenberg, über den wir gestern abend geredet haben.«
»Aha.«
Sie setzte sich auf einen Stuhl. Auf einem kleinen Tisch standen eine Kaffeekanne, Tassen, Gläser und eine Flasche Likör. Während sie einschenkte, holte ich mir einen Stuhl und stellte ihn neben ihren.
Die Glut des Feuers überzog ihr Gesicht mit einem Hauch von Sonnenuntergang und machte die klaren Züge weicher. Sie war für mich immer noch das Mädchen aus einem Gunnar-LarsenRoman, jetzt mehr denn je. Sie kam aus der Nordmark zurück, hatte die Skier an die Wand gestellt, geduscht und sich etwas Bequemes angezogen; jetzt saß sie vor dem Kamin, mit Frostrosen auf den Wangen und der Erinnerung an Schneewehen im Blick.
Aber ihr melancholischer Gesichtsausdruck, verstärkt durch die düsteren Tonfolgen aus der Stereoanlage, verrieten sie. Unter der Haut trug sie das Oslo der Neunziger, dunkel, aggressiv und aus dem Gleichgewicht geraten. Verdunkelte Straßen, von Abgasen durchsäuert; Fußgängerunterführungen mit rassistischen Graffiti an den Betonwänden; das Geräusch einer zersplitterten Flasche, das Rasseln einer Kette, das leise Seufzen eines aufklappenden Springmessers: so weit entfernt von den sauberen Loipen wie nur möglich, ein Abstand wie vom Sognsvann bis Manhattan, und doch durch eine U-Bahn-Fahrt zu überbrücken.
Ich trank einen Schluck Kaffee und nippte am Likör, ein geteerter Weg durch sonnenreife Heide in Schottland, umrahmt von blühender Erika. »Na, wie war dein Tag?«
Sie antwortete nicht, hob nur die Schultern und starrte über den Rand des Likörglases in die Wärme.
»Ist was passiert?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Hat jemand angerufen?«
»Wer denn schon?«
»Ich dachte, für mich?«
Sie drehte den Kopf in meine Richtung, so abrupt, daß ihr Haar aufflog. »Nein! Auch nicht für dich.«
Die Musik machte eine Pause zwischen zwei Sätzen. Dann erfüllte sie wieder den Raum, eine Schute, die mit geblähten schwarzen Segeln auf den Untergang zusteuerte.
Ihr Lächeln war schief. »Ich hätte wohl lieber Solveigs Lied spielen sollen.«
»Ist doch etwas passiert?«
Sie schüttelte wieder den Kopf. Dann streckte sie die Hand aus, öffnete sie. Ich legte meine vorsichtig hinein, und sie strich mir über den Handrücken und die Innenseite der Finger. »Ich bin nur manchmal einfach so deprimiert. Ich sitze hier, allein, an einem Freitagabend. Habe keinen festen Job, sondern renne von einem Ort zum anderen. Habe keine feste Beziehung, sondern …« Sie unterbrach sich selbst: »Suche.«
Sie legte die freie Hand an den Kopf, den Kopf schief und streckte die Schulter, als hätte sie Nackenschmerzen.
Unsere Blicke trafen sich. »Ruft jemand an? Nein. Eilt jemand nach Hause, weil er am liebsten mit mir zusammen sein möchte? Nein.«
Ich fühlte ein akutes Vakuum in der Magengegend. »Ich bin gekommen, so schnell ich konnte, aber …«
»Nimm’s nicht persönlich! Du hast ja eine Freundin, oder? In Bergen.« Sie zog eine Grimasse. Der Griff um mein Handgelenk war fester geworden, ihre scharfen Nägel taten mir fast weh. »Wo bist du gewesen?«
»Überall und nirgends. Zum Schluß bin ich in einer Kneipe namens Berlin gelandet, mit einem Bekannten.«
»Berlin? Ist das ein Ort für richtige Männer?«
»Vielleicht nicht. Hast du schon mal was von einer PLAYTIME gehört?«
Sie verdrehte die Augen. »Das soll was ganz Supertolles sein. Alle reden davon. Warum fragst du?«
»Dieser Bekannte hatte zwei Karten, für morgen abend.«
»Morgen abend bin ich besetzt«, sagte sie schnell.
»Aber ich meinte …«
»Von jemandem, der nicht mehr frei ist«, fügte sie mit einem bitteren Unterton hinzu.
»Ach ja?«
»Schockiert dich das?«
»Nein. Und ich würde niemals für seine Frau arbeiten, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Wer hat denn gesagt, daß es ein Er ist?«
Ich sah sie verwundert an.
Sie lachte ein plötzliches, abruptes Lachen. »Doch, doch! Keine Sorge.«
Sie ließ meine Hand los und schob sie weg. »Komm her. Zieh deinen Stuhl näher ran. Dann hören wir uns … Jetzt wird die Musik jedenfalls lustiger. Das Forellen-Quintett. Das sind Fische.«
»Ich weiß.«
Ich tat, wie sie mich geheißen, und rückte den Stuhl näher. Sie beugte sich vor, zum Zeichen, daß ich meinen Arm um ihre Schulter legen sollte. Dann lehnte sie sich zurück und sah verträumt in die Glut. »Jetzt können wir spielen, wir wären seit zwanzig Jahren verheiratet.«
»Glaubst du, wir würden dann so dasitzen?«
»Ich habe spielen gesagt, oder?«
In einem silbernen Schwarm schwammen die Forellen in unsere Gehörgänge. Spielerisch springend hinterließen sie Ringe in unseren stillen Gedanken, kleine Wellen am Übergang zwischen Lippen und Haut.
Ich spürte die Schwere ihres Körpers in der Achselhöhle. Ihre Wärme wurde meine. Ihr Haar duftete mild, eine Mischung aus Fichtennadeln und Skiwachs.
Ihr Gesicht war breit, die Augen standen weit auseinander. Und ihr Blick kam von weit, weit am anderen Ende der Loipe.
Als die Tassen und die Gläser leer waren und die letzte Forelle längst den Wasserspiegel des CD-Players durchbrochen hatte, wandte sie mir Gesicht und Mund zu. Wie eine gefällte Fichte im Wald beugte ich mich zu ihr hinunter – und küßte sie.
Ihre Lippen hatten einen Kupfergeschmack von Herbstsonne und Likör, leicht klebrig. Ihre Zunge war klein und schmal, flüchtig wie ein Federball.
Sie legte die Hände um meinen Nacken und hielt mich mit dünnen Fingern fest. Ich strich ihr über den Rücken, vorsichtig und väterlich. Aber etwas durchschnitt mich von innen; dieser Kuß war so neu und nackt, daß er mich offen und verletzbar machte.
Sie krabbelte über die Lehnen der Stühle und lehnte sich an mich. Dann hob sie den Kopt und sah mich an. »Kommst du mit
– rüber?«
Ich erwiderte ihren Blick, lange. Aus dem Vogelnest zwischen meinen Beinen reckte das Kuckucksjunge seinen Hals.
»Nein«, flüsterte ich. »Leider.«
»Hast du Angst vor etwas?«
»Ich glaube nicht, daß es klug ist. Wir könnten …«
»Und ich dachte immer, ihr 68er wärt so freizügig!«
»Ich bin für einen 68er viel zu alt. Meine ersten Schläge auf die Finger bekam ich um 58, und die sexuelle Revolution war etwas, worüber wir im Dagblad lasen, wo sie vorzugsweise in den Kronleuchtern stattfinden sollte.«
»Und warum hast du mich dann geküßt?« sagte sie beleidigt, machte sich los und stand auf.
»Dich zu küssen, Marit, war meine Art, eine Briefmarke auf den Brief zu kleben, den ich dir vielleicht irgendwann einmal schicken werde.«
»Du könntest dich nicht etwas klarer ausdrücken?«
»Ich …«
»Vergiß es!« Sie ging zum Tisch vor dem Ofen. »Räumst du auf? Ich geh’ ins Bett. Gute Nacht.«
»Gute … Nacht.«
Laut schloß sie die Tür hinter sich.
Ich saß da und starrte die geschlossene Tür an.
Sie hatte recht. Ich war zu weit gegangen.
Ein Kuß ist die intimste aller Zärtlichkeiten. Die Geschlechtsteile zusammenbringen kann jedes Tier. Der Kuß ist das Adelszeichen des Menschen.
Hinterher ist alles gleichgültig. Wenn man eine Frau erst geküßt hat, braucht man nicht mit ihr zu schlafen. Man trägt sowieso während des restlichen Turniers ihr Banner an der Rüstung.
Ich räumte auf und richtete mir das Sofa her.
Dann ging ich ins Bett. Nichts geschah. Absolut nichts.
So gesehen war es die perfekte Aufladung für den Oslo-Marathon.

30

An der Startlinie war alles wie gewohnt. Alle Krankenhäuser des Landes, von Kirkenes bis Kristiansand, hatten für das Wochenende geschlossen. Die Patienten waren hier. Hier standen sie mit ihren Knieverletzungen und Rückenleiden, Plattfüßen und Magengeschwüren, Muskelschmerzen und Angstneurosen.

Die Straßen um Bislett waren voller Menschen in Laufkleidung, die alle möglichen unterschiedlichen Marathonstrecken laufen wollten. Die Blicke der Autofahrer wurden schon paranoid.

Das Wetter war in Vollreifen Spätsommer umgeschlagen. Die wenigen Wolken, die am azurblauen Himmel hingen, verzogen sich schnell, als wären sie in schlechter Form und hätten Angst, beim Start mitgezogen zu werden. Eine zaghafte Vormittagsbrise wehte den Sonnenschein an uns vorbei. Es herrschten fast perfekte Laufbedingungen.

Eine Atmosphäre von Tiger Balsam, Massagecreme und Vaseline erfüllte die Louises Gate auf der Nordseite von Bislett, wo die Läufer in Gruppen nach der angenommenen Laufzeit aufgestellt waren wie geile Hengste vor der Öffnung der Weide im Frühling. Es waren Hengste jeden Alters, von jungen bis zu alten grauen, und ebenso viele Formen, vom wackligen Fohlen bis zum schwerfälligen alten Brauereipferd. Es waren auch recht viele Stuten dabei, mit auffallend wenig flirtenden Blicken. Das war nicht der Grund, warum sie hier waren, weder die Hengste noch die Stuten.

Ich hatte zeitig gefrühstückt. Als der Kaffee fertig war, hatte ich an die Tür von Marits Schlafzimmer geklopft und gefragt, ob sie auch einen wolle. Mit rostiger Stimme hatte sie geantwortet, daß sie noch liegenbleibe. Als ich fertig war zum Gehen, saß sie schmaläugig über ihrer Kaffeetasse, während sie ziellos die Aftenposten durchblätterte, aber nicht zu schmaläugig, um vielsagend an meinem Laufanzug herunterzusehen und »Haute Couture?« murmeln zu können.

Ich hatte Preben Backer-Steenberg in der Mitte der überdachten Tribüne an der westlichen Längsseite gefunden, wo es für die Läufer abgetrennte Felder gab, um Taschen und Oberbekleidung abzulegen. Er hatte dagestanden und mit dem Strohhalm hellgrünes XL-1 aus einer Anderthalb-Liter-Flasche getrunken, gekleidet in seidenglattes Gelb und Blau, als liefe er eigentlich für Schweden. Als er mich entdeckte, hatte er mit einem viereckigen Grinsen gegrüßt: »Na, tatsächlich zur Stelle, Veum?« Ich hatte genickt, und er hatte hinzugefügt: »Dann fühl’ ich mich sicher, Veum. Ganz sicher.«

Jetzt stand er einen halben Meter von mir entfernt in der Startreihe vor mir. Ich hatte mir alle Details an seiner Ausrüstung und seinem Anzug gemerkt. Ich würde mich an ihm festbeißen, solange ich konnte. Ich würde ihn nicht einen Meter aus den Augen lassen, und ich würde auch ein wachsames Auge auf die haben, die um ihn herum liefen.

Wenn man an der Startlinie eines Marathons steht und schon einmal Marathon gelaufen ist, trifft man immer Bekannte. Ein paar Kerle vom Betriebssportverein der Bergenser Polizei nickten reserviert, während ein Typ aus dem Amt für Baugenehmigungen im Rathaus mir seine ganze Lauftechnik verriet, vom ersten bis zum letzten Kilometer. Um uns herum klagten die Leute darüber, wie krank sie seien.

Ein alter Klassenkamerad aus der Volksschule in Nordnes kam herüber und begrüßte mich. In der Schule waren wir immer unter den letzten gewesen, die in die Fußball-Gruppe C der Klasse kamen. Nichtsdestotrotz waren wir die einzigen aus der Klasse, die später in der Lage waren, Marathon zu laufen. Wir näherten uns dem Start, und das Feld begann wie gewöhnlich langsam nach vorn zu sickern. Die Gruppen lösten sich allmählich auf. Die mit den höchsten Ambitionen preßten sich nach vorn. Die Sonne beschien das vielfarbige Gewimmel in der Louises Gate, während das Stadion etwas betrübt links liegen gelassen wurde, wie ein Monument der Helden früherer Zeiten, als es diese wirklich noch gab.

Der Wettkampfleiter kam auf einem Kranwagen mit einem kurzen Appell um die Kurve. Der Starter hob die Pistole. Der Startschuß ertönte. Wir waren in Bewegung, ohne einen Millimeter voranzukommen.

In den ersten Sekunden eines Marathonlaufs steht alles still. Das Startfeld ist so dicht, daß man das beklemmende Gefühl bekommt, auf der Stelle tretend an einer gemeinsamen Aufwärmübung teilzunehmen. Dann bewegt sich die Schlange langsam vorwärts, Reihe für Reihe. Man findet kleine Öffnungen zwischen den Läufern, folgt einer Zickzacklinie immer zum nächsten vermuteten Leerraum, die ganze Zeit über die Schulter schauend, um nicht umgelaufen oder aus den Schuhen getreten zu werden.

Ich hatte allerdings eine bevorzugte Laufroute – als Preben Backer-Steenbergs personifizierter Rockzipfel, der sich vollends darüber im klaren war, daß er trotzdem nie in dessen Kleiderschrank aufgenommen werden würde.

Anfangs bereitete das auch keine großen Probleme. Er lief, nach einem Rhythmus suchend, ins Feld und wieder heraus, Bürgersteige rauf und runter, links oder rechts von geparkten Autos, durch die Josefines Gate, an der Uranienborg Kirke vorbei und weiter die Gyldenløves Gate entlang zum Kirkevei.

Von hier aus und in den Frognerpark hinein begann das Feld sich zu verteilen. Die typischen kleinen Grüppchen bildeten sich heraus, Läufer, die bis zum Ziel zusammen laufen würden, aber immer mit kleinen Veränderungen: Jemand kam von hinten und schloß sich an, andere blieben zurück und mußten zum Schluß von der Gruppe ablassen. Ich folgte noch immer Backer-Stehenberg, der allerdings vorn in einer Gruppe war, während ich abwartend ganz hinten blieb. Es war anderthalb Jahre her, daß ich zuletzt einen ganzen Marathon gelaufen war, und ich war mir meiner Form nicht ganz sicher.

Beim Vestre Gravlund schien es, als erhöhte das ganze Feld unbewußt das Tempo, wie um schnell an dieser Erinnerung an den allerletzten aller Läufe vorbeizukommen, bei dem es auf der Siegertribüne besonders eng werden würde. Am 6-km-Schild sah ich auf die Uhr. 28.31. Das bedeutete ein Tempo von ungefähr 4.45 pro Kilometer, und viel schneller durfte es auch nicht werden.

In Smestad stand eine schöne, dunkelhaarige Frau mit zwei gut gekleideten Kindern vor einem roten Sportwagen. Als BackerSteenberg vorbeilief, winkte die Frau ihm ein leises »Heia!« zu, während die Kinder weit enthusiastischer riefen:

»Heia, Papa! Heia, Papa!« Die Tochter blieb bei der Mutter stehen, nachdem wir vorbeigelaufen waren, aber der Sohn folgte uns ein kleines Stück, sichtlich stolz darauf, einen der Läufer zu kennen.

Wir waren jetzt auf dem Rückweg durch den Monolittvei in den Frognerpark. Die Bäume trugen Herbstfarben. Es war definitiv September, der letzte Außenposten des Sommers, Grenzstation zum kommenden Winter. Backer-Steenberg hatte inzwischen einen roten Nacken, und sein Hemd war zwischen den Schulterblättern schweißnaß. Ich konzentrierte mich darauf mitzuhalten.

In der Bygdøy Allé kam der Klassenkamerad aus Nordnes an meine Seite, und wir fielen in einen gemeinsamen Rhythmus, der uns ohne allzu große Anstrengung durch den Slottspark hinter Abelhaugen und Nisseberget und am Holbergs Plass vorbei nach Pilestredet führte. Jetzt bogen wir wieder in Richtung Bislett ab, an der Frydenlunds Bryggeri vorbei, wo wir zu gern eingekehrt wären, um kurz ihre Ware zu testen.

Uns war im voraus erzählt worden, daß die schwerste Steigung der Strecke hinauf zur Voldsløkka führte, aber für einen Vestlending war das nicht schwieriger als eine Straßenbahnstute. In Florø hatten sie stärkere Steigungen, und noch hatte niemand versucht, einen Trollstigen-Marathon zu initiieren.

Bei Voldsløkka waren wir jedenfalls oben angelangt, mit Aussicht über den östlichen Teil des Osloer Kessels, und wie zum Zeichen, daß wir auf dem Heimweg waren, folgten wir der Bergensgate in Richtung Bentsebru und Torshov.

An der Erfrischungsstation pflügte sich ein Bergenser von der ungehobelten Sorte mit Ellbogen wie Stahl von hinten an uns vorbei, so daß die Trinkbecher in alle Richtungen sprangen. Backer-Steenberg blickte irritiert auf – und entdeckte mich direkt neben sich.

Etwas matten Blickes murmelte er: »Du bleibst dran, Veum?« »Kein Problem soweit.«
Das Torshovdal hinunter merkte ich, daß er schneller wurde.

Ich drehte auf, während der Klassenkamerad aus Nordnes direkt hinter mir quengelte: »Das ist zu schnell, Varg. Wir liegen hinter der Zeit.«

»Welcher Zeit?« stieß ich hervor und lief weiter.

 

In hohem Tempo passierten wir den Sofienbergpark nach

Osten in Richtung Tøyen. Am 21-km-Schild direkt vor dem Munch-Museum sah ich wieder auf die Uhr. 1.37.56. Wir liefen auf eine Zeit gut unter 3.20 zu.

Doch jetzt wurden die Beinmuskeln langsam mürbe. Auch Backer-Steenberg lief schwerfälliger. Dessenungeachtet hielt er jetzt seinen Platz hundert Meter vor mir im Feld. Ich mußte kämpfen, um den Anschluß zu halten.
»Das geht zu schnell, Varg, viel zu schnell«, sagte der Klassenkamerad an meiner Seite.

»Danke für die Aufmunterung.«

Wir waren unten in den schmalen Straßen von Grønland angekommen, überquerten den Akerselv und liefen an Oslo Spektrum und Oslo City vorbei.

Bei Kirkeristen folgten wir dem Feld vor uns in die Dronningens Gate und zur Karl Johan hinauf.
Hinter mir sagte irgend jemand: »Wir sind falsch gelaufen, alle!«
»Was?!« stöhnte der Nebenmann. »Sie müssen die Strecke umgeleitet haben.«
»Von gestern auf heute?«
»Vielleicht gab es einen Unfall.«
Einen Unfall?
Ich unterbrach abrupt den Laufrhythmus. Wo war BackerSteenberg?
Wir waren jetzt in der Fußgängerzone der Karl Johan. Die Laufstrecke war mit Plastikband abgesperrt, und entlang der Strecke standen dicht gedrängt Menschen, deren Rufe von Anfeuern bis zum Spott reichten.
Da!
Waren das nicht Backer-Steenbergs kurzer weißer Pony und sein gelbes Hemd, oben beim U-Bahn-Schild am Egertorg? Das war er doch, oder …?
Ich erhöhte das Tempo am Storting vorbei, wo Christian Krogh sehr gesetzt auf seinem Sockel saß und einen friedlichen Nachmittagsabsinth genoß, während die Horden an ihm vorbeihasteten, auf der Jagd nach verlorenen Horizonten.
Vor dem Grand Hotel war ich nahe genug dran, um sicher sein zu können. Er war es tatsächlich. Mit einem erleichterten Seufzer versuchte ich, meinen Rhythmus wiederzufinden. Aber ich hatte ihn verloren.
Während ich mehr als genug damit zu tun hatte, mich wieder einzulaufen, hatten sie hinter mir Kraft genug, um hochgestochene Gespräche zu führen. »Sieh mal, das Kilometerschild! Vergleich die Uhr! Wir sind zu kurz gelaufen! Kapierst du das? Die ganze Strecke von Alta nach Oslo, und dann lassen sie uns zu kurz laufen!«
»Vielleicht haben sie vergessen, es zu korrigieren«, sagte der andere ohne die geringste Überzeugung in der Stimme. »Immerhin hatten wir die Reise.«
»Die Reise? Die Reise?«
Ich lief an die Seite und ließ sie vorbei. Ich hatte den Höhepunkt meiner Leistungsfähigkeit in jeder Hinsicht überschritten.
Noch immer hatte ich Backer-Steenberg im Blick. Über den Rådhusplass und die Rådhusgate hinauf vergrößerte er allerdings den Abstand, und als wir auf das Gebiet der Festung Akershus kamen, konnte ich ihn zum erstenmal nicht mehr sehen.
Ich hatte starke Schmerzen in den Muskeln zwischen Brust und Oberarmen und an der Hinterseite der Oberschenkel. Der Klassenkamerad kam wieder an meine Seite und glitt leicht vorbei.
»Probleme, Varg?« fragte er im Vorbeilaufen.
Ich hatte das Stadium erreicht, in dem ich nicht mehr antworten konnte, also verhielt ich mich still, schüttelte aber vorsichtshalber den Kopf, um nicht zu verraten, daß ich kurz davor war aufzugeben. Danach sah ich ihn erst in Bislett wieder, nach dem Lauf.
Bei der Hornbrygge dachte ich: Jetzt breche ich aus. Das tut einfach zu weh. Von hier ist es der kürzeste Weg nach Bislett. Aber vorn vor dem Westbahnhof sah ich noch BackerSteenbergs weißen Schopf schimmern. Noch immer hatte ich die stille Hoffnung, daß auch er Probleme bekommen könnte, daß ich den Auftrag, den ich mir im Grunde ja selbst erteilt hatte, noch irgendwie erfüllen könnte: während des Laufs BackerSteenbergs Wachhund zu sein und aufzupassen, daß er sicher ins Ziel kam.
Aber wie es aussah, hatte ich mehr als genug damit zu tun, selbst sicher ins Ziel zu kommen.
Wir liefen am Kai um die Pipervik herum durch Aker Brygge und auf den Filipstadkai.
Hinter Filipstad folgte die Trasse dem Fußweg am Frognerkil. Ich war wieder in einem regelmäßigen Rhythmus, deutlich langsamer als vorher, aber ich konnte mich damit trösten, daß es vielen noch schlechter ging. Wir passierten die 30 Kilometer, und ein paar Läufer brachen zusammen. Einige lagen mit Beinkrämpfen am Wegrand, andere standen verzweifelt an Laternenpfähle geklammert, einer war stehengeblieben und klapperte mit den Zähnen, eingepackt in eine graue Wolldecke vom ErsteHilfe-Wagen, der das Rennen begleitete.
Wie um zu verdeutlichen, daß jetzt die kritische Phase des Laufes begonnen hatte, zogen sich aus der Mündung des Oslofjords blaugraue Wolken über der Stadt zusammen, als hätte jemand da unten einen Stöpsel herausgezogen, und als ich Skarpsno erreichte, begann es zu regnen.
Den Sjølystvei hinauf lief man wie gegen eine Rolltreppe an, und ich drückte mich eng an den Zaun zur Linken, um so gut wie möglich geschützt zu sein.
Mit dem Unwetter verschwand auch die letzte Illusion, den Auftrag erfolgreich ausführen zu können. Krumm gegen den Wind gebeugt, den Blick schützend zu Boden gerichtet, war ich vollauf damit beschäftigt, die Böschung nach Vækerø zu erklimmen, wo die Strecke ihren westlichsten Punkt erreichte, bevor sie den Drammensvei kreuzte und über eine Brücke in den idyllischen, zugewachsenen Nedre Skogvei einbog.
Der Regenschauer jagte weiter. Die Tropfen fielen in größeren Abständen. Dann war es vorbei. Auf den Straßen zwischen den Villen von Bæstum dampfte der Asphalt, und bei Olsens Enkes Gärtnerei, wo zu unserer Aufmunterung ein Hornorchester spielte, kam die Sonne durch große blaue Fenster in der Wolkendecke wieder zum Vorschein.
Das Ende eines Marathonlaufs ist eine einsame Sache. Der einzige, der dich begleitet, bist du selbst, und da ist nicht viel Trost zu holen.
Die Muskeln schmerzen. Die Lungen rasseln. Die Fußsohlen brennen, und man hat Blasen an den besonders beanspruchten Stellen. Man bewegt sich mechanisch: Es wird immer schwerer, die Füße zu heben. Man spürt einen Widerstand in den Gelenken, und es schmerzt an Stellen, von denen man nie gedacht hätte, daß sie schmerzen könnten.
Aus der Autoschlange auf dem Drammensvei starren hochmütige Autofahrer mit ungeduldigen Blicken, weil man daran beteiligt war, den Verkehr lahmzulegen. In der Bygdøy Allé kam man an Leuten vorbei, die ihre Hunde spazierenführten, und man dachte unwillkürlich: Ein Hund sollte man sein … In der Josefines Gate, zum drittenmal, beobachtet man, daß andere Läufer ihre Fans dabeihaben, einige feuern einen sogar mit an, wohl weil man aussieht, als könne man es brauchen.
Dann ist man auf dem letzten Kilometer. Man kann sich gerade noch vorwärts schleppen. Weibliche Läufer und Konkurrenten um die Siebzig laufen vorbei: Auf dem Bürgersteig kriecht eine Schnecke, und man merkt, daß es einem schwerfällt, sie einzuholen. Man hört die Lautsprecher von Bislett wie verlockende Jahrmarktsmusik, aber man schafft kaum noch die Kurve in die Bislettgate, würde am liebsten weiter-, weiter-, weiterlaufen, bis man daliegt wie eine exakte Kopie des ersten Marathonläufers aller Zeiten, gestrandet in Sankt Hanshaugen.
Steifbeinig klappert man durch das Marathontor. Vor dem inneren Auge sieht man die Fernsehübertragungen von olympischen Läufen und anderen großen Meisterschaften, das Publikum, das sich mit einem überwältigenden Jubelgeschrei erhebt, wenn der Gewinner in die Zielgerade einläuft. Niemand erhebt sich und jubelt, wenn man ankommt, die meisten wenden einem den Rücken zu und unterhalten sich, essen ihre Bananen und Schokoladen weiter oder pflegen ihre Wunden und Blasen. Man umrundet die Nordkurve. Ein Fotograf schießt ein Foto, von allen, die ins Ziel kommen, aber es gelingt kein Lächeln, man stolpert nur an ihm vorbei.
Dann steigt der Jubel, im Inneren. Die letzten Meter … Mit großer Anstrengung hebt man die Arme über den Kopf, und jetzt lächelt man, wenn man es ein Lächeln nennen kann. Alle Stoppuhren der Welt stehen still. Man ist am Ziel. Man ist am Ziel, am Ziel, am Ziel.
Vornübergebeugt steht man da und schnauft.
Es ist ein Wunder. Der Körper bewegt sich nicht mehr. Man steht still.
Ich richtete mich auf, sah mich um, hielt nach Backer-Stehenberg Ausschau. Ich sah ihn nicht. Nirgends.
Ich stakste zur Südkurve, wo ich Bananen, Schokolade und etwas zu trinken bekam.
Ich suchte und suchte, fand aber immer noch keinen BackerSteenberg.
Der Klassenkamerad kam herüber und lehnte sich schwer an meine Schulter. »Persönlicher Rekord, Varg. Bin zum erstenmal unter 3.20 gelaufen.«
»Wir sind zu kurz gelaufen«, sagte ich. »Ein bis zwei Kilometer zu kurz.«
Die Freude in seinem Blick erlosch. »Sicher?«
»Völlig.« Ich hob meine eigene Uhr und zeigte ihm die Endzeit. »Hier steht 3.21.16, aber meine Beine sagen mir, daß es eher 3.30 war. Bei der Geschwindigkeit auf den letzten Kilometern kann ich froh sein, wenn es darunter war.«
»Ohh.«
Nichts ist schlimmer, als einem Marathonläufer mit gerade erkämpftem persönlichem Rekord zu erzählen, daß die Laufstrecke zu kurz gewesen sei und sein persönlicher Rekord nie anerkannt würde. Man könnte ihm erzählen, daß seine alte Mutter tot sei, daß seine Frau Selbstmord begangen habe und sein Haus abgebrannt sei, ohne daß er reagieren würde. Aber das sollte man ihm nicht sagen. Nicht zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort.
Ich ging weiter, folgte der Schlange auf der Außenseite der Bahn. Allmählich fühlte ich mich besser. Ich dehnte und streckte die Beine, rollte mit Schultern und Nacken, lockerte die Arme und dehnte die Muskeln noch ein bißchen.
Durch das Tor beim Clubhaus kam ich wieder auf die Bahn.
Dort stand er und wartete. Das kurze weiße Haar war so naß, daß die Kopfhaut durchschimmerte, hellrot wie bei einem Ferkel.
Er hielt dieselbe Trinkflasche in der Hand wie während des Lautes, und als er mich entdeckte, hob er die Arme und sagte: »Da siehst du es, Veum. Gesund und munter! Nichts ist passiert. Absolut nichts! Du hättest es dir sparen können – aber nein, eigentlich nicht. Jedenfalls hat es dich ins Ziel gebracht.«
»Ein Sieg für den Sport?« murmelte ich und beugte mich zu der Plastiktüte mit meinen Trainingssachen hinunter.
»Aber eine Niederlage für den Detektiv! Prost denn, Veum, und danke für die Begleitung!« Er hob die XL-1-Flasche zu einem säuerlichen Gruß, setzte sie an den Mund und trank mit großen, durstigen Schlucken, wie es Marathonläufer eben tun.
Er setzte die Flasche ab, trocknete sich den Mund mit dem Handrücken – und krümmte sich plötzlich nach vorn. Er war weiß im Gesicht. »Ojj!«
Die Plastikflasche fiel auf den Betonboden, er preßte die Hände auf den Bauch und starrte mich erschrocken an, als hätte ich ihn geschlagen. »Das tu-tut weh!«
Ein Mann mir kurzem, dunklem Haar neben ihm richtete sich auf und sagte neunmalklug: »Magenkrampf. Du hast zu schnell getrunken.«
Backer-Steenberg drehte sich halb zu ihm um. »M-magen … aber das …« Dann krümmte er sich zusammen, fiel vornüber und rollte ein paar Treppenstufen hinunter, bis er ruhig liegenblieb, im Rücken eines erschöpften Läufers, der mit dem Kopf zwischen den Knien dasaß und mit leerem Blick in seine offene Trainingstasche sah.

31

Der Mann mit den kurzen Haaren war schneller als ich. Er war schon neben Backer-Steenberg auf die Knie gegangen und hatte ihn auf den Rücken gedreht, als ich bei ihnen anlangte. Er sah zu mir auf. »Ich bin Arzt. Schnell, einen Krankenwagen.«

Ich starrte ihn eine Sekunde lang an. Dann lief ich zum Zaun an der inneren Bahn und rief einem Mann in Sanitäteruniform zu: »Habt ihr einen Krankenwagen hier stehen?«

»Gleich da vorn! Braucht jemand Hilfe?«
»Ja!«
Er war schon auf dem Weg. »Ich hole eine Bahre.« Ich lief zurück zum Tatort. Backer-Steenberg war aschfahl im

Gesicht, sein Mund schief wie nach einem Schlaganfall, und der Unterkörper bewegte sich in starken Zuckungen. Der Arzt hatte seine Jacke schon geöffnet und machte Herzmassage. Das Ohr an seinem Mund, horchte er auf den Atem.

»Sieht schlecht aus«, murmelte er.
»Die Bahre kommt schon.«
Die Leute begannen zu kapieren, daß etwas passiert war.

Läufer sammelten sich um uns. Jemand kam mit guten Ratschlägen. Aber die meisten blickten auffallend scheu, als löste dieser Anblick in jedem von ihnen die unangenehme Erinnerung daran aus, wie plötzlich Dinge geschehen können.

»Ist er bewußtlos?« fragte ich.
»Ja.«
»Weg da! Aus dem Weg!«
Die Sanitäter wurden durchgelassen. Backer-Steenberg wurde

schnell und professionell in eine Wolldecke gewickelt und auf die Bahre gelegt, während der Arzt ein paar kurze Anweisungen gab.

Ein Sanitäter sah sich um. »Ist hier jemand, der ihn kennt?« »Preben Backer-Steenberg«, sagte ich.
»Ist das sein Name?«
»Ja.«
»Backer-Steenberg … Backer-Steenberg …«, summte es in

der Menschenmenge um uns herum.
»Ich fahre mit!« sagte der Arzt, griff seine Sporttasche und

folgte den Sanitätern auf die Bahn und in schnellem Tempo zum nächsten Tor.

Kaum eine Minute später hörten wir, wie draußen die Sirenen aufheulten und schnell durch die Thereses Gate in Richtung Ullevål Sykehus verschwanden.

Ich sah sekundenlang seine Familie vor mir, die dunkelhaarige, etwas zu gut gekleidete Frau und die zwei Kinder, die vor ein paar Stunden oben in Smestad gestanden und ihn so eifrig angefeuert hatten. Was für eine Nachricht erwartete sie jetzt, durch einen unerwarteten Anruf? Wie würde morgen ihr Leben aussehen?

Die Flasche! dachte ich plötzlich und sah mich suchend um. Aber ich konnte sie nirgends sehen.
Ich setzte mich schwer auf die Betontreppe. Eine überwältigende Müdigkeit befiel mich, als wäre ich nicht einen Marathon gelaufen, sondern hundert.
Der Menschenauflauf um mich herum löste sich auf. Unten auf der Bahn kamen ständig neue Läufer ins Ziel. Man drehte und streckte sich wie vorher. Der Meinungsaustausch über den Verlauf des Rennens wurde genauso eifrig geführt wie immer. Nach zehn Minuten war es, als sei nichts geschehen.
Ich erhob mich, die schwerste Last der Welt im Nacken.
Meine Tätigkeit als Leibwächter bot kaum eine Grundlage für einen Antrag auf staatliche Subventionierung. Ich hatte Mons Vassenden nach Oslo begleitet, ihn ordentlich wieder in den Zug nach Bergen gesetzt – und dort hatte ihn jemand in die Mangel genommen. Ich war Backer-Steenberg auf den Fersen gefolgt, von Bislett bis zur Karl Johan. Dann war er mir davongelaufen – und jemand hatte ihn beim Schlaffittchen gepackt.
Diesmal wußte ich sogar, wer es gewesen war.
Aber konnte ich es beweisen? Und würde mir jemals jemand glauben – dem legendären Mann unter dem Bett?
Ich trottete zum Klang der Hornmusik aus dem Stadion. Es klang wie die Begleitung zu einer Begräbnisprozession in New Orleans.
Auf steifen Beinen stakste ich zur Wohnung von Thomas und Man, fand den Schlüssel da, wo Thomas gesagt hatte, zog mich mit ebenso leichten Bewegungen aus, wie man es im Altersheim zum wöchentlichen Bad tut, und ging unter die Dusche, wo ich stehen blieb, bis der Warmwasserbehälter leer war, und noch länger.
Nachdem ich Hemd und Unterhose angezogen hatte, setzte ich mich auf ihren besten Stuhl, neben mir das Telefon und auf dem Schoß das Telefonbuch.
Die erste Nummer, die ich wählte, war die vom Ullevål Sykehus. Ich wurde mit der richtigen Station verbunden, aber als ich fragte, wie es Backer-Steenberg gehe, bekam ich die Antwort, daß sie mir die Frage nicht beantworten könnten, die Familie sei jedoch unterrichtet.
»Aber ihr werdet mir doch wohl sagen können, ob er lebt oder ob er …«
»Tut mir leid.«
Danach rief ich die Polizei an und fragte nach Anne-Kristine Bergsjø. – Sie hatte am Wochenende frei. – »Und Torleif Pedersen?« – Er kam erst am Sonntag abend wieder. – »Aber es geht um einen Mord!« – Einen Augenblick, dann könnte ich mit dem Diensthabenden sprechen.
Der Diensthabende hatte den Sprachfehler, den man bei Leuten aus Sunnmøre öfter antrifft.
»Mit wem spresche isch, bitte?«
»Veum ischt mein Name. Varg Veum.«
»Sie haben unsch eine Mitteilung zu machen?«
»Es geht um Mord, das heißt – jedenfalls um einen Mordversuch. Aber das Problem ist, daß das Ullevål Sykehus die Information nicht rausrückt, ob der Betreffende tot ist oder ob sie es geschafft haben, ihn zu retten.«
»Probleme sind dazu da, daß man sie löscht, Veum«, sagte der Diensthabende relativ verständlich. »Könnten Sie alles noch mal von Anfang an erzählen?«
»Punkt für Punkt. Ein Mann mit Namen Preben BackerSteenberg fiel vor anderthalb Stunden im Bislett-Stadion um, nachdem er über die Ziellinie des Oslo-Marathons gelaufen war. Er wurde mit einem Krankenwagen weggefahren. Mehr weiß ich nicht, außer daß ich sehr gute Gründe habe anzunehmen, daß er vergiftet wurde, daß jemand Gift in seine XL-1-Flasche getan hat, während er lief.«
»Haben Sie die Flasche, Veum?«
»Nein … vielleicht hat der Arzt sie mitgenommen.«
»Der Artscht aus dem Krankenwagen?«
»Es war ein Arzt im Stadion, ein Teilnehmer.«
»Nun ischt es wohl nischt ganz ungewöhnlich, daß Leuten schlescht wird nach einer solchen Kraftanstrengung.«
»Backer-Steenberg wurde nicht schlescht, er wurde ermordet! Und es gibt eine Verbindung zum Mord im Oslo Plaza am Donnerstag, den Oberinspektor Bergsjø untersucht. Deshalb habe ich nach ihr gefragt.«
»Augenblick, Veum, Augenblick, isch notiere!«
»Du hast den Namen, oder soll ich buchstabieren?«
Ich hoffte, daß er wenigstens mit der Rechtschreibung keine Probleme hatte.
»Haben Sie eine Telefonnummer, unter der Sie zu erreischen sind, Veum?«
Ich gab ihm die Nummer von Thomas – »noch etwa eine Stunde« – und danach die von Marit Johansen – »irgendwann gegen Abend und morgen früh«.
»Sie hören von unsch. Danke für Ihre Information«, schloß der Diensthabende das Gespräch, als hätte ich ihm ein umgefallenes Verkehrsschild gemeldet.
Ich zog mich fertig an, räumte auf, nahm das nasse Handtuch und die Plastiktüte mit der Laufausrüstung mit und ging.
Zurück nach Bislett.
Inzwischen war auch die große Menge derer, die nur den halben Marathon gelaufen waren, längst ins Ziel gekommen. Die Tribünen waren nur noch spärlich besetzt, und auch die Stimme aus den Lautsprechern war auf dem Weg in die letzte Kurve. Das Licht über Oslo war schwächer geworden, die Schatten flüchtiger.
Ich kreuzte die Bahn und ging auf die Tribüne, auf der BackerSteenberg umgefallen war. Diesmal suchte ich gründlicher.
Aber ich fand keine Flasche. Die mit ihr hantiert hatten, hatten sie möglicherweise selbst geholt. Das Stadionpersonal konnte sie weggeräumt haben. Oder jemand anders hatte sie mitgenommen. In dem Fall hoffte ich, daß niemand den Inhalt probierte.
Über die Lautsprecher wurde ich zum Blasenball ins SASHotel eingeladen. Aber ich biß nicht an. Ich hatte nicht viel zu feiern. Außerdem hatte ich eine Verabredung.

32

Ein aufreißerisches Plakat mit dem in großen, silbermetallic glänzenden Buchstaben aufgemalten Titel PLAY-TIME dominierte den schmalen Bürgersteig in der kleinen Querstraße zwischen Torggate und Møllergate. Das Lokal hieß ganz anders, aber es gab keinen Zweifel daran, was zur Zeit die große Hauptattraktion war. Davor eine Schlange von schon zwanzig Metern, und es war eine andere als vor dem Kaffeetresen beim Basar der Inneren Mission. Hier brauchte man Ellbogen, um nicht aussortiert zu werden.

Wir waren in einen Teil von Oslo eingetaucht, der längst schon JA! gesagt hatte zu einem farbenfrohen Miteinander – in sehr grellen Farben. Wenn die Atmosphäre im unteren Teil der Karl Johan im Laufe des Abends an einem gewöhnlichen Wochentag gespannt wirken konnte, dann war die Stimmung hier annähernd revolutionär, sogar schon recht früh an einem Samstagabend. Hier gingen nicht viele Rentner spazieren. Die meisten Leute waren weit unter Vierzig, und nur äußerst wenige waren allein unterwegs. Die meisten kamen in lärmenden Gruppen von Gleichgesinnten, ob es nun das Alter, die Hautfarbe oder die soziale Zugehörigkeit betraf.

Der Türsteher im Smoking stand am Eingang und diskutierte lautstark mit ein paar gutgekleideten Pakistanis, denen der Zugang verwehrt wurde. »Nur für Mitglieder! Du mußt deinen Mitgliedsausweis vorzeigen!« wiederholte er wieder und wieder, als sei er von einer inneren Automatik gesteuert. Die Stimmung wurde nicht besser, als Ove Haugland mit mir im Schlepptau und einem kurzen Nicken zum Türsteher an der ganzen Schlange vorbei direkt hineinging, ohne auch nur eine Straßenbahnfahrkarte vorzuzeigen.

An der Garderobe mußten wir allerdings unsere Eintrittskarten zeigen, aber danach kamen nur noch der rote Läufer zum reservierten Tisch und Champagner zur Begrüßung, bevor wir uns überhaupt hinsetzen konnten. Die Macht der Presse ist unermeßlich, in gewissen Zusammenhängen.

Das Lokal war nicht viel greller, als ich befürchtet hatte, Schwarz und Silber in rosa Licht getaucht, geschmackvoll wie ein Elvis-Film von 1965.

Das Publikum bestand aus einer einschlägigen Mischung: herablassende Sozialarbeiterinnen mit einer Tante im Ullernåsener Nobelviertel in Begleitung Smoking tragender Kavaliere mit geschwollener Oberlippe, als hätten sie einen Bienenschwarm passieren müssen, um hereinzukommen, Lebe-das-LebenIntellektuelle aus Homansbyen mit James-Joyce-Anstecker am Jackenaufschlag und Knutschfleck am Hals, garniert mit dem einen oder anderen weltberühmten Konzertpianisten mit schlecht synchronisiertem Selbstbild, einem Fernsehredakteur, der häufiger in gut dokumentierten Lutefisk-Gelagen anzutreffen war als auf dem Bildschirm, und einem abgehalfterten Schauspieler um die Sechzig, der Strindbergs Dødsdansen nur noch in seinem eigenen Privatleben spielte, für alle Fälle behängt mit einer alternden Souffleuse von der schielenden Sorte. Es war eine beeindruckende Menagerie. Goya hätte sie nicht schöner malen können.

Das Lokal sah aus wie ein umgebautes Café, mit Galerie und allem Drum und Dran, und es gab einen sonnenklaren Klassenunterschied zwischen denen, die unten um die Tische herum saßen, und denen, die sich auf der Galerie stapelten, wo sich die Schlange von draußen häufchenweise anzusammeln schien.

Die Show hatte noch nicht begonnen. Die Bühne war leer, die Musik aus den Lautsprechern kam aus der Dose – und war viel zu laut.

»Und worin besteht die Attraktion?« rief ich Ove Haugland zu. »Wart nur ab, bis die Vorstellung anfängt!« rief er zurück. Ich hatte ihm erzählt, was mit Backer-Steenberg passiert war,

und er hatte interessiert zugehört. Von der Rezeption im Bristol aus hatte er in Ullevål angerufen, war aber auch an der Schweigepflicht gescheitert. Als er zurückkam, teilte er mir mit: »Aber ich kenne jemanden da oben. Er hat um zehn Uhr Dienst. Ich versuche es später noch mal.«

Wir bestellten etwas zu essen, einen von der Bedienung empfohlenen Schalentierteller, und während wir darauf warteten, tranken wir weiter Champagner.

»Sitzt dir der Lauf auch in der Zunge? Ich dachte, es seien die

Beine, die am meisten auszuhalten hätten.«
»Diesmal war es der Hinterkopf, Haugland. Da, wo das Ge
wissen sitzt.«

»Du hättest nichts tun können, als schneller zu laufen – und das war dir eben ganz einfach nicht möglich.«

»Ich hätte nicht laufen müssen. Ich hätte mit dem Rad neben ihm herfahren können.«
»Wie wär’s mit einem Hubschrauber, direkt über seinem Kopf? Außerdem, wenn ich dich richtig verstanden habe, ist doch alles im Stadion passiert.«
»In einem sogenannten Sperrbezirk, ja, der während des ganzen Laufs überwacht werden sollte – so stand es in der Einladung.«
Er hob sein Glas. »Sollten wir beide uns nicht beim Vornamen nennen, nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben?« Er lächelte schief.
Ich hob das meine. »Doch, vielleicht. Prost, Ove.«
»Prost, Varg.«
Das Essen kam, eine Art Gruppensex-Komposition gedopter Schalentiere, mit denen der Koch hatte machen können, was er wollte. Und das hatte er getan, mit geiferndem Mund. Im selben Augenblick wurde das Licht gedämpft. Eine Rockband erschien auf der Bühne, wie es schien, völlig ungeordnet, aber laut miteinander sprechend.
Über die Lautsprecheranlage verkündete eine Grabesstimme: »PLAY-TIME is coming!« Die Musiker griffen nach ihren Instrumenten, die Bühnenbeleuchtung flammte auf wie eine Granatenexplosion, und ein paar quietschende, disharmonische Gitarrenakkorde zerschmetterten jede Form von Unterhaltung und ließen die Luft im Raum vibrieren.
»PLAY-TIME is coming!« ertönte es noch einmal aus der Anlage.
Ich sah Ove Haugland mit hochgezogenen Brauen an. Er gab mir zu verstehen, daß ich warten und aufpassen sollte.
Ein glitzernd geschmückter Vorhang wurde zur Seite gerissen, und drei jugendliche, leicht feiste Fünfunddreißigjährige, in billig lila glänzenden Jacken und schwarzen Hosen kamen auf die Bühne. »PLAY-TIME is here!«
Einer schrie: »Meine Damen und Darmpfeifen!«
Der andere heulte: »Huren und Herren!«
Der dritte lächelte entwaffnend: »Alle, die ihr bezahlt habt!«
»Und die, für die bezahlt wurde!«
»Wir heißen euch willkommen!«
»Zum neusten Schneesturm!« Er hob den Handrücken an die Nase und tat, als würde er etwas schnüffeln.
»Der Alptraum aller Mütter!«
»Der Bankrott aller Väter!«
»PLAY-TIME!«
»Eierjongleusen!«
»Schmalztenöre ohne!«
»Läufige Bucklige!«
»Direkt vom Oslo-Marathon!«
»Wir haben alles hier!«
»Wir haben sie alle da!«
»PLAY-TIME is here!«
»PLAY-TIME is here!«
»PLAY-TIME!«
Ich beugte mich zu Ove Haugland hinüber. »Machen die die ganze Zeit so weiter?« rief ich.
»Nein, nein. Das ist nur die Einführung.«
Sie gingen über zu einem Mittelteil, der im wesentlichen aus Sketchen bestand, hauptsächlich über Personen, die blind oder taub waren oder hinkten, dazwischen hier und da ein klassisches Kinderlied, bis zur Unkenntlichkeit entstellt von der Rockband.
»Willst du mir damit irgend etwas sagen?« brüllte ich über den Tisch zu Ove Haugland.
»Lehn dich zurück und genieß es, Varg! Das hier ist Kultur! Wart’s ab …«
Einer der Moderatoren betrat mit einem Handmikro die Bühne. »Meine Damen und Drogenhändler!«
Der andere fiel ein: »Luder und Literaten!«
Der dritte trat vor den Vorhang.
»Wir haben die Ehre, euch allen …«
»… den ersten Gast des Abends …«
»… zu präsentieren …«
»… die Madonna der norwegischen Literatur!«
»Der Henry Miller der Frauenbewegung!«
Der Vorhang wurde zur Seite gezerrt, und alle drei gingen mit ausgestreckten Armen auf die Knie wie der Chor in einem viertrangigen Musical, während einer anstimmte: »Marianne Moe!«
»Marianne Moe!«
Der dritte wandte sich zum Publikum: »MARIANNE MOE – Leute!«
Die Frau, die auf dünnen Beinen die Treppe heruntergestolpert kam, in einem grauen Kleid, das etwas zu eng saß, um sittsam auszusehen, sah sich hilflos um und klimperte mit den Lidern.
Das Publikum stand auf und johlte seine Ovationen.
Sie wurde auf die Bühne gezogen, auf einen Barhocker gesetzt und sofort von den drei Moderatoren umringt, in weitaus distanzloserem Abstand, als man es in der Journalistenschule lernte. Der erste schob sein Mikro so dicht an ihren Mund wie nur möglich, ohne daß sie es verschluckte.
»Marianne Moe, du bist dafür bekannt, ein paar der drastischsten erotischen Romane der modernen norwegischen Literatur geschrieben zu haben?«
»Nein, ich …«
»Du bist berühmt dafür, deine Lust nie unter den Scheffel zu stellen, sondern ganz im Gegenteil für alle Öffentlichkeit publiziert zu haben, wie geil du bist.«
»Nein, jetzt finde ich … Ich habe nicht …«
»Sie hat nicht!« Er wandte sich zum Saal hin. »Habt ihr das gehört, Leute? Sie hat gar nicht! Sie hat es selbst gesagt! Marianne Moe! Sie hat nie …«
»Ich habe nicht gesagt …«
»Nein, sprich dich aus, hab Vertrauen zu Frau Sommer, gibt es sehr viele Absteigen in solchen Büchern?«
»Du meinst – Abschnitte?«
»Nein, Absteigen! Ich meine, so wie du dich entblätterst, Blatt für Blatt sozusagen, der eine offene Artikel nach dem anderen … Wie hooch ist das Stipendium für jede Zimmer-Nummer? Im Jahr?«
»Ich …«
»Aber Marianne Moe ist nicht hierhergekommen, um dumme Fragen zu beantworten, Leute!«
»Marianne Moe ist gekommen, weil sie uns versprochen hat, uns zu unterrichten!«
»Marianne Moe hat versprochen, im Laufe des Abends eine ganz neue …«
»… und nackte! …«
»… erotische Novelle für uns zu schreiben, die sie selbst vortragen wird, für euch, liebe Loddels, kurz vor Mitternacht!«
»Du, ich glaube nicht …«
»Sie glaubt nicht, daß es so lange dauern wird, Leute! Sie ist schon dabei! Gleich kommt es ihr! – Marianne Moe, Leute … gebt ihr einen Langen, ich meine, gebt ihr einen langen Applaus … Sie kommt, Leute! Sie kommt wieder!«
Die junge Autorin stolperte unter heulenden Ovationen und stehendem Applaus die Treppe hinauf. Hätte sie einen Schwanz gehabt, sie hätte ihn zwischen die Beine geklemmt. Der Blick, den sie uns im Gehen über die Schulter zuwarf, war nackt, als sei sie vergewaltigt worden.
Ich hatte einen bitteren Geschmack im Mund, als ich mich wieder an Ove Haugland wandte. »Was zum Teufel soll das denn, Ove?!«
»Das ist die neue Zeit, Varg! Dies ist die neue Zeit!«
»Findest du das lustig?«
Er schüttelte den Kopf.
Von der Bühne ertönte: »Wir machen eine Pause, Leute!«
»Wir wollen einen trinken!«
»Und Marianne Moe ein bißchen …«
»… helfen!«
»Aber wir kommen wieder, Leute!«
»Nicht verzweifeln!«
»PLAY-TIME is coming back!«
»PLAY-TIME is coming …«
»… back!«
Die Band endete in einem verdunkelten Crescendo. Unter donnerndem Applaus verließen alle Akteure die Bühne. Danach wurde es zaghaft heller, als sei der Lichtmeister sich nicht sicher, ob wir es wagen würden, einander in die Augen zu sehen.
Ove Haugland stand auf. »Ich versuch’s noch mal in Ullevål.«
»Bitte sie, mir eine Ladung Valium zu schicken, als gemeinsamen Pausensnack«, sagte ich.
Während er weg war, sah ich mich um. Die Zuschauer waren ganz aus dem Häuschen vor Begeisterung, manche derart, daß sie Schweißflecken unter den Armen hatten. Es hüpfte in tiefen Ausschnitten, und der berühmte Pianist war längst mit seinen Fingern auf Wanderung.
Ich bestellte einen Drink, einen doppelten Whisky ohne die Spur von Eis.
Ich fühlte mich schlecht. Es konnte natürlich vom Laufen kommen. Oder es konnte etwas anderes sein.
Eine Frau von einem der Nebentische sah mich mit Saugnäpfen im Blick an. Sie hielt die Beine freizügig gespreizt, und ihr Rock war kürzer als ein Liebesbrief vom Graf Dracula. Mitten auf dem Oberschenkel trug sie ein schwarz-rotes Strumpfband: eine Grenzstation, die man, wann immer man Lust hatte, zu passieren eingeladen war.
Fast hätte sie mich auf den Boden und unter den Tisch hypnotisiert, doch dann kam Ove Haugland zurück, das Gesicht in ernste Falten gelegt.
Die Frau am Nebentisch verdrehte die Augen, und mit einem verächtlichen Knick im Handgelenk brachte sie unmißverständlich zum Ausdruck, was sie von uns als Paar hielt.
Ove Haugland zog den Stuhl vom Tisch weg und setzte sich. Er war weiß um die Nasenwurzel. »Preben Backer-Steenberg ist heute abend um 19.28 Uhr gestorben, ohne noch einmal zu Bewußtsein gekommen zu sein.«
Wenn man einen Draht in eine Steckdose steckt, bekommt man einen Schlag. Es hätte mich nicht überraschen dürfen. Trotzdem durchfuhr es mich wie ein elektrischer Schlag.
Nach einer Weile sagte ich: »Haben sie was über die Todesursache gesagt?«
»Herzversagen.«
»Herzversagen? Aber …«
»Aber über die Ursache haben sie nichts gesagt. Wenn man bedenkt, daß er gerade einen Marathonlauf hinter sich hatte …«
»Es war nicht der Lauf, der ihn umgebracht hat, Ove!«
»Nein? Wer denn?«
»Axel Hauger. Es muß irgendeinen Zusammenhang geben zu dem, worüber wir gestern geredet haben.«
»Erpressung?«
»Jetzt mit tödlichem Ausgang, ja.«
»Das Problem ist, daß Axel Hauger nicht existiert, Varg.«
»Nicht existiert? Sie haben seine Nummer bei der Auskunft. Ich bin bei ihm zu Hause gewesen! Ich weiß, wo er wohnt.«
»Was ich meine, ist, daß er in den Archiven nicht existiert. Ich hab’ es sogar in Schweden checken lassen, weil du gesagt hast, er sei irgendwie zweisprachig. Mein Kontakt da drüben hat ihn auch nicht gefunden. – Aber ich habe einen Termin für dich!«
»Aha? Wann?«
»In Stockholm, Dienstag, zwölf Uhr – du sollst anrufen und einen Treffpunkt abmachen, wenn du ankommst.«
»Wie heißt sie?«
»Brita-Helén Rosenquist.«
»Sticht sie?«
»O ja. Besonders, wenn du ihr zu nahe kommst.«
»Ich hatte nicht vor …«
»Nein?«
»Und was ist mit Thorbjørn Finstad? Hast du über ihn noch was rausgefunden?«
»Es wird dir nicht gefallen, Varg.«
Das Licht wurde gedämpft, ein erwartungsvolles Summen erfüllte den Raum.
»Oder vielleicht gerade!«
»Spuck’s aus! Wovon redest du?«
»PLAY-TIME, PLAY-TIME«, flüsterte ein heiserer Bariton über die Lautsprecheranlage.
»Er sitzt in Ullersmo, das stimmt wohl.«
»PLAY-TIME … is coming … PLAY-TIME … is coming … back!«
»Ja – und was weiter?«
»Aber er hat sich so gut benommen, daß er Hafturlaub bekommen hat.«
Das Orchester kam auf die Bühne, das Licht begann zu flakkern.
»Du meinst doch nicht etwa …?«
»Doch!«
»Meine Damen und Dosenöffner!«
»Pilze und Dauerlutscher!«
»PLAY-TIME is back! – PLAY-TIME is back! – PLAYTIME is …«
»Er ist jetzt draußen, Varg. Heute abend!«
»… back!«
»Seit wann – und wie lange?«
»Seit gestern vormittag – bis morgen abend!«
Ich schloß die Augen und ließ es über mich ergehen. Die Pause war endgültig vorbei.

33

Diesmal kamen sie nicht allein. Die drei Moderatoren schritten inmitten einer der heruntergekommensten Dance groups, die ich je gesehen hatte, die Treppenstufen herab, einer Art zotteliger Hinterhofkneipen-Version von Fohes-Bergère, so arhythmisch, daß sie in der schlimmsten Nebenstraßenkaschemme hinter dem Place Pigalle ausgepfiffen worden wären. Pummelig wie Wollknäule und so beweglich wie Teddybären, in engsitzenden Trikots mit Löchern an den Nähten und zerrissenen Netzstrümpfen, erweckten sie nichtsdestotrotz den ohrenbetäubenden und vorbehaltlosen Jubel des Publikums.

»Liebe Puppen und Papierscheren!«
»Splitter und stumpfe Gegenstände!«
»Einen warmen Applaus für …«
»Das Eierballett!«
»Die reinsten und feinsten …«
»Alle mit frischgestempeltem Gesundheitsattest!«
»Frei von Pest!«
»Frei von Na-ihr-wißt-Schon!«
»Das Eierballett! Das einzige und unechteste …«
»Eierballett!«
Und das Eierballett tanzte nach den unsichtbaren Mustern

eines vergreisten Choreographen zu den Tönen einer Band, die ihre Instrumente vollendet mißhandelte.

Doch niemand übertönte die Moderatoren. »Aber das sind nicht unsere einzigen neuen Gäste, Leute! Hier kommt der zweite Gast des Abends!«

Zwei liefen zum Vorhang und zogen ihn zur Seite, während die Damen dort oben die Augen verdrehten, gigantische Schmollmünder machten und lockend ihre Arme bewegten.

Ein Mann in flaschengrüner Samtjacke und Jeans tauchte, eine Gitarre um den Hals, oben auf der Treppe auf.
»Unser nächster Gast, Leute! Der Kirchenrockstar aus dem Vestland! Der Pfarrer, der bei Gegenwind pißte! Børre Knalheim!«
»Ja, jetzt wird’s hier gleich knallen!« setzte ein anderer hinzu.
Børre Knalheim kämpfte sich die Treppe hinunter, umgeben von Frauenbeinen und aufdringlichen Händen, hoch oben und tief unten, während er sich an die Gitarre klammerte, als sei sie ein Rettungsring und er befände sich in hoher Dünung – und das tat er offenkundig auch. Nicht einmal auf der Reeperbahn konnte man schneller versacken.
»Was bringt diese Leute dazu, bei so was mitzumachen?« rief ich Ove Haugland zu.
»Gute Frage, nächste Frage? Eine pervertierte Form von PRGeilheit? Daß sie nie gelernt haben, nein zu sagen? Oder die Hintermänner von PLAY-TIME sind einfach verdammt gute Überredungskünstler!«
»Børre Knalheim, unser volksfreundlicher Pastor, der Mann mit dem Pferdeschwanz, der Schandpfahl der Gitarrenfreunde, die Posaune Unseres Herrn auf Erden …«
Ich lehnte mich vor. »Können wir irgendwohin gehen und weiterreden?«
»Willst du nicht noch Marianne Moe abwarten?«
»Können wir – können wir wenigstens pissen gehen?«
»Zusammen?«
»Ja?«
»Du und ich, Varg?«
Ich stand auf und ging zur Garderobe. Als ich mich umdrehte, sah ich, daß er hinterherkam.
Ich stolperte in die Toilette, wo die Wände weiß und frisch poliert waren, die Spiegel wie Fenster zu einer neuen und sauberen Welt wirkten und die Geräusche aus dem Lokal zu Hintergrundmusik gedämpft wurden durch das Rauschen in den Rohren und das unregelmäßige Spülen der Pissoirs.
Ich holte meinen Füller heraus und hinterließ meine Schrift, wenn auch nicht an der Wand, so doch unmittelbar daneben.
Ove Haugland vollführte das gleiche Ritual auf dem Platz neben mir.
Danach ging ich zum Waschbecken, wusch mir gründlich die Hände und spülte sie mit eiskaltem Wasser ab, dann auch das Gesicht.
Ich zog ein Papiertuch aus einem Behälter und trocknete mich ebenso gründlich ab, als hätte ich den Abend in einem Bordell verbracht.
Ich sah Ove Haugland an. »Zum Teufel, wozu hast du mich mitgenommen, Ove?«
Er legte den Kopf schräg. »Hast du es immer noch nicht verstanden? Das hier ist … Ich wollte dir – den Zeitgeist zeigen, Varg! Siehst du das nicht? Wir sind die Heiligen der letzten Tage! Das ist der Verfall des Römischen Reiches, Teil zwei!«
»Und wir sitzen in der ersten Reihe im Parkett und sehen den Zug abfahren?«
»Wir leben in einer Zeit des Übergangs, gib’s zu! Wir befinden uns an einem Wendepunkt in der Geschichte, wo alles in gewisser Weise erlaubt ist – jedenfalls möglich.«
»Das kann ich unterschreiben. Ich sehne mich schon nach zu Hause. Nach den Bethäusern.«
Er kam näher. »Die Siebziger gehörten den Maoisten, die Achtziger der rechten Welle, die uns alle in den Neunzigern an Land spülte, mit zerschmetterten Gliedern und gebrochenen Nacken. Wem verdammt noch mal die Neunziger gehören, wissen die Götter.«
»Denen mit dem rechten Glauben, auf beiden Seiten der Mittellinie. Sie haben schon angefangen, Kirchen niederzubrennen. Bist du Nihilist geworden, Ove?«
»Es ist eine neue Zeit im Anmarsch. Die Großmächte zerbrökkeln, neue Staatsgrenzen werden gezogen, es ist Zeit für neue Koalitionen.«
»Na vielen Dank, und die neue Völkerwanderungszeit hat längst begonnen.«
Er wandte sich abrupt um. »Ja und? Was willst du daran ändern, Varg? Den Rest der Welt aussperren?«
»Habe ich …«
»Eine ›Festung Norwegen‹ errichten, ein Freizeitreservat für Deutsche mit Campingwagen und Engländer mit Lachs-Fischrecht? Die dann Kitschpostkarten nach Hause schicken können? Shittings from Norway?«
»Hab’ ich davon geredet, irgend jemanden auszusperren?« Ich zeigte auf den Ausgang. »Was du da drinnen siehst, Ove, ist was ganz anderes als ein historischer Nullpunkt. Das ist eine Zivilisation in vollkommener Auflösung, die pervertierte Sehnsucht der Überflußgesellschaft nach immer neuen Reizquellen, ein Unterhaltungsanspruch jenseits aller Verhältnismäßigkeit. Und es ist einer Welt angepaßt, in der Geld regiert und Leben keinen Gegenwert mehr hat. Öffentliches Leben wie das der beiden aufgespießten Opfer da drinnen oder persönliches Leben wie das von Mons Vassenden. Oder Preben Backer-Steenberg. Oder …«
»Okay, okay, okay! Wollen wir wieder reingehen – zum großen Finale –, damit du deine schlimmsten Befürchtungen bestätigt bekommst?«
»Ich weiß nicht, ob mein Magen das verkraftet.«
»Vertrau auf deine Kondition.«
Er hielt mir die Tür auf, als wir hinausgingen. Durch die Lärmschleuse der Garderobe kamen wir wieder in den Saal. Die Frau am Nebentisch schickte uns einen verächtlichen Blick, der anzeigen sollte, daß sie äußerst genau wußte, was wir auf der Toilette getrieben hatten. Eine Bedienung trippelte herbei, um unsere Gläser wieder mit Champagner zu füllen.
Wir hatten es sicher nötig.
Auf der Bühne bot der Rockpastor die letzten Töne eines Liedes dar, dessen Text niemand verstand, weil er übertönt wurde, musikalisch vom Hausorchester und verbal vom Eierballett, das im Chor gegen seinen Rhythmus einen umgeschneiderten Beatles-Vers jaulte: We love you, yeah, yeah, yeah, we love you …
Der Mann stand wie angewurzelt mitten auf der Bühne. Die Chordamen schlängelten sich ihm wie Blasentang um Oberschenkel und Unterleib. Mit zitternder Stimme hob er den Blick zu einem Himmel, von dem er hoffte, daß er sich für das hier nie würde rechtfertigen müssen.
Dann kamen die unvermeidlichen Moderatoren hüpfend und springend von der Seite auf die Bühne. »Mägde und Madonnen!«
»Broccolistengel und Brunftheuler!«
»Kurz gesagt – Leute! Ein ohrenbetäubendes Hallelu …«
»… ja-du-warst-so-guuut!«
»… für Børre Knalheim!«
Die Chordamen und zwei der Moderatoren schleiften den beinahe bewußtlosen Vestlandsrockstar, den verlorenen Sohn aus dem Bethaus, durch den Vorhang hinter die Bühne, während das Licht sich auf den darauf Verbliebenen konzentrierte.
»Und nun, Leute, der Clou des Abends, der Höhepunkt der Nacht, um nicht zu sagen die Klimax! Das, worauf ihr alle wartet – jetzt ist sie wieder da, um uns aus ihrer eben geschriebenen erotischen Novelle vorzulesen. Wir lassen alle Metaphern liegen und sprechen direkt zu den Organen … meine Damen und Herren … die Autorin Marianne Moe! Neu und nackt! Ja, das ist der Titel, also, meine – Herren.«
Marianne Moe wurde von zwei zielbewußten Moderatoren durch den Vorhang geleitet. In der Hand hielt sie einen Notizblock. Vom Licht der Scheinwerfer geblendet, irrte ihr Blick wie ein Pingpongball durch den Saal, als suchte sie dort nach Beistand.
Wolfsgeheul entstieg dem Publikum, denn hinter Marianne Moe, in einer nachgemachten Folies-Bergère-Position in Pfauform die Treppe hinauf, hatte sich das Eierballett aufgestellt, und sie hatten die Zeit fleißig genutzt. Abgesehen von einem winzigen Tanga waren sie nackt wie gerupfte Hähnchen, und die Stellungen, die sie für Marianne Moes Finale einnahmen, überließen wenig oder nichts der Phantasie.
»Marianne Moe! Du hast eine Novelle für uns geschrieben, in nur …«
»Nein, ich …« Ihre Stimme klang dünn und hilflos. »Ich weiß nicht, ob ich ka-kann …«
»Ob du kannst?!« grölte der Moderator. »Du hast gekonnt, seit du – jedenfalls lange bevor du durftest! Du hast so viel geboten, all die Jahre, und hast uns allen gezeigt, was du kannst! Und daß du kannst! Du kannst uns jetzt nicht enttäuschen! Marianne Moe?«
»Nein nein, ich …«
Mit einer Handbewegung unterbrach der Moderator die Band. Es wurde mäuschenstill im Saal.
Die Moderatoren erstarrten in ihrer jeweiligen Positur. Das Publikum hielt die Luft an.
Marianne Moe sah sich mit großen, angstvollen Augen um wie der schwächste Konfirmand des Dorfes am Tag der Prüfung, und die Hand, mit der sie den Notizblock hielt, zitterte so, daß ich fürchtete, sie würde kein Wort davon ablesen können.
»Ich … Es sind nur einige Worte, die ich zusammengesetzt habe … Ich wollte nicht …«
Ich schob mit einem kratzenden Geräusch meinen Stuhl zurück und stand auf. Dann beugte ich mich zu Ove Haugland und zischte ihm ins Gesicht: »Das seh’ ich mir nicht länger mit an! Ich gehe!«
»Schon gut, Varg, schon gut!«
»Nur eine Frage noch: Wo glaubst du, ist Thorbjørn Finstad?«
»Zu Hause, denke ich! Sieh im Telefonbuch nach. Unter Aud.«
»Und wo, verdammt, meinst du, hält sich Svein Grorud versteckt?«
Er hob die Arme. »Auf der Hütte?«
»Hat er eine Hütte?«
»Keine Ahnung.«
»Kannst du es für mich rausfinden?«
»Ja, ruf mich Montag an!«
Die Leute an den umliegenden Tischen zischten uns zu, wir sollten still sein. Ein Ober war schon unterwegs, um den Türsteher zu holen. Auf der Bühne suchte Marianne Moe noch immer nach dem richtigen Wort.
»Varg …«
Ich nickte. »Bleibst du noch?«
»Ja.«
Der Türsteher kam auf uns zu.
»Wo treffen wir uns das nächste Mal, Ove? In Sodom oder in Gomorrha?«
»Irgendwo dazwischen, würde ich tippen.«
»Aber da sind wir doch schon!«
Damit hatte ich auch diesmal das letzte Wort.
Es war ein wohlerzogener Türsteher. Er begleitete mich ganz hinaus.
Noch immer standen draußen Leute Schlange. Sie drängten sofort zum Eingang, in der Hoffnung, den Platz ergattern zu können, der offensichtlich frei geworden war.
Ich schüttelte den Kopf, atmete tief durch und starrte dem Nachthimmel blind in die Augen, bevor ich die Møllergate entlang in Richtung Stortorv ging. Direkt um die Ecke kam ich an einem roten Escord mit einem Fuchsschwanz hinter der Scheibe vorbei. Einen Augenblick blieb ich stehen und sah hinein. Er war leer. Ich sah mich um, entdeckte aber niemanden. Also ging ich weiter, eine irritierende Spannung im Hinterkopf.
Ich ahnte die Schritte, bevor ich sie hörte, und ich hatte mich nur halb herumgedreht, als ein Handkantenschlag mich an der Schulter traf.
»Altes Schwein!« rief jemand, dann traf mich eine Faust am Kiefer und hinderte mich daran zu antworten.
Es knisterte vor meinen Augen, und ich wankte an eine Hauswand, während ich versuchte, mich gegen den Angriff zu schützen.
Ich sah schräg zu ihnen auf. Es waren vier, dunkelhäutig, in schwarzen Lederjacken und hellen Jeans.
Spl-tt!
Ein Springmesser blitzte auf.
Einer von ihnen, ein schmales, sehniges Muskelpaket mit schwarzem Schnauzbart und schneeweißen Augäpfeln, bespuckte mich mit den Worten: »Altes Schwein! Altes Schwein!« Er preßte mir ein Knie von unten in den Schritt, daß mir der Schmerz durch den Unterleib fuhr.
Einer rief etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand, und alle wandten auf Kommando den Blick zum Stortorv.
Dort kam eine neue wilde Hatz angestampft, in schweren, schwarzen Stiefeln, aber sonst genauso gekleidet: in Lederjakken und Jeans. Sie waren weiß wie die Engel Gottes, mit glattrasierten Schädeln, und schwangen einen halben Meter lange Baseballschläger über den Köpfen. Die Rufe, die sie ausstießen, hätte Mike Tyson erblassen und Attila und seine Hunnen ihre Reiseroute umlegen lassen. Mich erschreckten sie jedenfalls zu Tode.
Der Junge, der vor mir stand, spuckte mir mit Gefühl ins Gesicht und schubste mich dann gegen eine Wand, ließ los und setzte seinen Kumpels nach, mit Riesenschritten in Richtung Youngstorg.
Die Wilde Hatz donnerte vorbei wie ein entgleister Güterzug. Nur der letzte in der Reihe nahm sich die Zeit stehenzubleiben, wahrscheinlich, um Atem zu holen. Während er mich vom Bürgersteig aufhob, auf dem ich gerade zusammensank, grunzte er: »Haben die Schwarzköppe dir was getan? Wir machen sie fertig! Wir jagen sie bis ans andere Ufer, wo sie hingehören. Und noch weiter, wenn die Bullen nicht kommen! Biste einer von uns, oder …?«
Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, nein zu antworten; vielleicht hatte ich auch Angst, noch einmal zusammengeschlagen zu werden. Ohne zu warten, raste er weiter, erneut die Baseballkeule schwingend, während ich mit ausgestrecktem Arm an die Bordsteinkante taumelte und das Codewort zum Paradies herauspreßte: »Taxi! Taxi …«

34

Die ärztliche Ambulanz in Oslo ist der Gradmesser, der über den allgemeinen Gesundheitszustand der Stadt Auskunft gibt. Wenn ich mir die ansah, die vor mir in der Schlange standen, in den eineinhalb Stunden, die ich darauf wartete, an die Reihe zu kommen, war der Zustand eher schlecht.

Ein dünner kleiner Mann in den Dreißigern mußte einen Nahkampf mit einem Bären ausgetragen haben. Der eine Arm schien an einem dünnen Faden zu hängen, und die Splitter seiner zerbrochenen Brillengläser stachen wie eine Zahnreihe aus der Haut um seine Augen. Er saß da und jammerte wie ein kleines Kind.

Ein dunkelhäutiger Mann in weißem Kaftan und grünem Turban wurde auf einer Bahre hereingetragen. Er preßte die schmalen Hände gegen den Bauch, wo ein ständig größer werdender Blutfleck verriet, daß sein ganzes Röhrensystem herausfallen würde, wenn er nicht fest genug hielt.

Das Gesicht eines jugendlichen Lederjackenträgers, der eigentlich wirkte, als sei er ziemlich hart im Nehmen, sah aus, als habe sich jemand einen Spaß daraus gemacht, darauf mit Spikes-Schuhen Walzer zu tanzen.

Zum Schluß stand die Wahl zwischen mir und einer älteren Frau, die auf dem Heimweg von einem Besuch bei ihrer Tochter in Lørenskog in der Taxischlange vor dem Hauptbahnhof niedergeschlagen und ausgeraubt worden war. Zwei Zähne waren ausgeschlagen, und sie war durch den Schock aschfahl.

Meine Ritterlichkeit siegte und ließ sie mit einem gezwungenen Lächeln vor. Es tat teuflisch weh, vom Kopf bis zum Unterleib. Ich humpelte auf einem Bein, an dem einer der Übeltäter einen Marathonmuskel getroffen hatte, der schon vorher am Ende gewesen war.

Als ich endlich an die Reihe kam, ging ich krumm ins Untersuchungszimmer, während ich mit den Händen meine edlen Teile festhielt, als seien sie aus Königlich Dänischem Porzellan und als wagte ich nicht, sie aus der Hand zu geben.

Der Geruch von Äther wurde deutlicher.
Die junge Ärztin lächelte mich professionell an. Als sie mich zu einer Behandlungshege wies, sah sie kurz auf die Karte, die ich an der Aufnahme ausgefüllt hatte. »Ach, ein Bergenser?«
»Ja, aber das war nicht der Grund.«
»Sicher?«
Ich setzte mich auf den Rand der Liege, so vorsichtig, als sei es ein Nagelbrett. Sie erhob sich und kam zu mir herüber,

leuchtete mir in die Augen, bewegte die Finger davor hin und her, befühlte meinen Kieferknochen mit den Fingerspitzen und kontrollierte, ob das Schlüsselbein an Ort und Stelle saß.

»Kannst du das Hemd aufknöpfen?«

Ich tat, was sie sagte, und sie untersuchte meinen Oberkörper, mit besonderer Konzentration auf die Rippen.
»Kannst du dir die Hose ausziehen und dich hinlegen?«
Als ich etwas zögerte, fügte sie hinzu: »Beide Hosen.«
Ich legte mich auf die Liege und versuchte, die Beine zu strecken. »Ich bin etwas steif. Ich bin heute Marathon gelaufen.«
»Ach ja? War das so hart?«
Mit kühlen Fingern faßte sie mir an die Hoden. Vorsichtig drückte sie zu. Es quietschte im Gebälk, die Tränen schossen mir in die Augen, und ich spürte, wie mir der Schweiß auf die Stirn trat.
»Tut das weh?«
Ich nickte.
»Du wirst da unten ziemlich anschwellen.«
Ich lächelte tapfer. »Ist das nicht der Sinn der Sache?« »Nicht so weit unten.«
Sie beendete die Untersuchung. »Aber das ist nur vorübergehend. Sie vertragen Unglaubliches.«
»Das hab’ ich gemerkt.«
»Jedenfalls kannst du froh sein, daß du nicht morgen Marathon laufen sollst. Zieh dich wieder an.«
Sie setzte sich hinter einen Schreibtisch, schrieb etwas auf die Karte und füllte ein Rezept aus. »Du hast Glück gehabt. Nicht viele kommen nach einer Kollision mit Oslo by night mit so relativ heiler Haut davon. Es ist nichts gebrochen, aber ich schreibe dir etwas Schmerzstillendes auf, und dann wird ein Pfleger die Wunden in deinem Gesicht versorgen. Willst du den Vorfall melden?«
»Nicht jetzt. Ich gehe sowieso morgen zur Polizei.«
Sie hob den Kopf und sah mich an. »So?«
»Ja. Wir haben was zu besprechen. Nichts Besonderes, nur zwei, drei plötzliche Todesfälle.«
»Gut, daß du dich nicht dazugesellt hast.«
»Ja – danke.«
Ich wurde zu einer Kabine nebenan geführt, wo ein Pfleger in meinem Gesicht Unkraut jätete, es mit einem Desinfektionsmittel besprühte und die Beete mit Tannengrün für den Winter abdeckte. Als ich wieder herauskam, war ich kreuz und quer mit Pflaster versehen, und die Haut kochte wie eine frischgewürzte Rollwurst, ausgiebig gepfeffert.
Ich wartete auf ein Taxi. Es war drei Uhr. Noch war es lange hin, bis der Morgen seine zwei Aspirin in unser Glas warf und es darin aufbrausen ließ. Noch gab es nur nachtschwarze Drinks.
Das Taxi kam. Ein wenig sprachgewandter Sikh aus Mysen brachte mich per Eilpost nach Hovseter, wo ich einen Gutschein von der Ambulanz unterschrieb und ihm mein berühmtes Lächeln als Trinkgeld gab.
Ich schloß die Wohnung auf und schlich mich durch den Flur ins Wohnzimmer, um sie nicht zu wecken. Dort saß sie jedoch am Tisch, mit Schlagseite im Blick, auf halber Höhe der zweiten Weißweinflasche.
Als sie mich sah, schrak sie zusammen. »O Gott, was ist passiert?!« Sie lachte nervös, hoch oben im Hals. »Ich hatte keine Ahnung, daß es so gefährlich ist, Marathon zu laufen.«
»Oslo bei Nacht, ich kann dir sagen!«
Sie griff nach meiner Hand. »Komm, setz dich und erzähl!«
Ich setzte mich, und sie fiel neben mich, auf eine Weise, die mich ganz unruhig machte, unbequem wie ich saß, auf etwas, das sich wie ein fast platter Fußball anfühlte.
»Was ist passiert?«
Ich sah sie an. Sie war diskret elegant gekleidet: graue Bluse und kurzer, schwarzer Rock. Aber es war nicht die Spur von Schminke auf ihrem Gesicht. Die Lippen waren fast unanständig nackt, als wären sie stark beansprucht worden. Der Fußball war voller Schotter.
Dann erzählte ich ihr von PLAY-TIME und Ove Haugland, wie die Show gewesen war und was mich draußen erwartet hatte.
»Ein roter Ford mit Fuchsschwanz hinter der Heckscheibe?« platzte sie heraus.
»Ja? Kennst du so einen?«
»Ich …« Ihr Blick flackerte. »… habe so einen gesehen, hier draußen, vor ein paar Tagen.«
»Hier, vor dem Block?«
»I-ich glaube.«
Weitere Kommentare hatte sie nicht abzugeben. Ihr Blick war schwer, als hätte er mehr als eineinhalb Flaschen Wein zu tragen.
»Und du?« fragte ich. »Hattest du einen schönen Abend?«
Ihr Blick glitt an mir vorbei. »Er ist nicht gekommen. Er war wohl verhindert.« Mit einem bitteren Lächeln fügte sie hinzu: »Ich bin das gewohnt. So ist das, wenn man – Bekanntschaften hat, die nicht frei über ihr Leben bestimmen können. Statt dessen hat mich ein anderer abgeschleppt.« Sie begegnete meinem Blick. »Aber ich hab’ ihn rechtzeitig abgewimmelt, no hard feelings.«
Vorsichtig strich sie mit einer Hand über meine Wange, streifte die bepflasterten Stellen mit sichtbarem Schaudern und ergriff schließlich mit warmen Fingern meine Hand, die ganze Zeit nachdenklich, als habe sie eigentlich ein ganz anderes Gesicht vor sich.
»Kommst du allein ins Bett?«
»Ja, ich …«
»Und das frage ich nur aus Hilfsbereitschaft.«
Ich lächelte matt. »Danke. Ich kann im Augenblick sowieso zu nicht viel anderem einladen als zu einer abgebrochenen Ballonfahrt, also – tja, danke.«
Sie erhob sich, eine schmale Gestalt.
Als sie gegangen war, wälzte ich mich auf die Seite und schlief ein, den einen Schuh noch am Fuß. Der andere stand vor dem Sofa wie ein trauriges Symbol einer humpelnden Existenz, mit einem Fuß im Gestern und einem im Grab.

35

Der nächste Morgen kam wie ein gerissener Einbrecher. Als ich die Augen aufschlug, war er verschwunden, mit all meiner Energie. Ich fühlte mich wie eine Verlustrechnung, in der alle Posten stimmten.

Der Duft von Kaffee und Toast zog mich in die Küche. Diesmal hatte sie ein richtig stattliches Frühstück auf die Beine gestellt, und das Lächeln, mit dem sie mich empfing, war breiter als die Nordmark und offener als das Maridal.

»Guten Morgen!«
»Bist du sicher?«
Ich sah aus dem Fenster. Dort draußen verdeckte ein fahler,

blasser Himmel die Sonne. Die Hügel um uns herum lagen friedlich und scheinbar harmonisch da. Also war es wohl nur in meinem Inneren so, als wären alle Roundabouts voller Verkehr, als hingen hitzige Autofahrer in überfüllten Zentrumsstraßen auf ihren Hupen und als kündeten die Autobahnen vom Jüngsten Gericht und von Tod.

Ich sah auf die Titelseite der Zeitung. Mein Blick fiel auf einen Einspalter: Oslo-Marathon: Teilnehmer starb. Der Text erzählte, daß ein dreiundvierzig Jahre alter Teilnehmer aus Oslo gestorben war. Wahrscheinlich infolge eines Herzversagens, nachdem er am gestrigen Marathon teilgenommen hatte. – Keine Andeutung, daß irgend etwas Kriminelles dahinterstecken könnte.

Ich konzentrierte mich auf das Frühstück, eine Art Urform von Leben, Zelle und Sonne in einem.
Sie beobachtete mich von der anderen Seite des Kontinents.
»Woran denkst du?«
»Gerade eben versuche ich, gar nicht zu denken.«
»Tut es weh?«
»Ich habe das früher schon versucht.«
»Ich meine – die Wunden.«
»Oh. Wie gewöhnlich am Tag danach. Gedämpfter, aber gleichzeitig nachdrücklicher. Ich glaube, ich muß was gegen Schmerzen nehmen.«
»Heute kannst du dich doch wohl ausruhen?«
»Ich …«
In diesem Augenblick klingelte das Telefon.
Sie ging und nahm ab. »Ja? – Ja. – Ja, er ist hier. – Einen Moment.« Sie kam zurück. »Es ist die Polizei.«
Ich seufzte. Dann stakste ich auf den Flur zum Telefon. »Ja? Hier ist Veum.«
»Anne-Kristine Bergsjø. Ich sitze hier vor einer Notiz des Diensthabenden. Du sollst irgendwie gesagt haben, daß dieser Tod während des Marathonlaufs gestern etwas mit dem OsloPlaza-Fall zu tun hätte.«
»Ja.«
»Hast du was dagegen, aufs Polizeirevier zu kommen und zu präzisieren, was du damit meinst?«
»Überhaupt nicht. Aber es wird vielleicht etwas dauern. Ich habe gestern selbst ganz schön was abgekriegt.«
»Was meinst du. Bist du überfallen worden?«
»Ja.«
»Hast du es gemeldet?«
»Nein, ich dachte, ich könnte das bei dir tun. Wo wir doch mittlerweile so gut miteinander reden können.«
»Das fällt nicht in mein Ressort. Es sei denn … Sollte es auch etwas mit …?«
»Das würde mich nicht wundern.«
»Sollen wir dir einen Wagen schicken?«
»Nein, nein. So schlimm ist es nicht. Ich bin in ungefähr einer Stunde da, wenn mich niemand hindert.«
»Ich schicke dir einen Wagen. Gib mir die Adresse.«
Es hatte keinen Sinn zu diskutieren. Ich kämpfte mich zurück zur Küche, beendete das Frühstück und ging ins Bad, um meine Wunden genauer in Augenschein zu nehmen.
Das Licht war grell und unbarmherzig. Ich sah aus wie ein Bombenkrater, koloriert in Blau und Grau. Zwischen den Beinen hatte ich eine Ausrüstung, die ein Nilpferd eingeschüchtert hätte, und der eine Fuß fühlte sich an, als hätte ich den Marathon barfuß auf Schotter zurückgelegt.
Ich goß mir kaltes Wasser ins Gesicht, zog mich aus und duschte heiß. Als ich fertig war, standen schon uniformierte Polizisten vor der Tür.
»Tragt ihr kugelsichere Westen?« fragte ich in etwas vorlautem Ton, wie ein Kirchenfürst auf einem Heavy-Metal-Konzert.
Ich schaute kurz in die Küche, wo Marit Johansen saß und in der Zeitung blätterte. »Ich hau’ ab. Bleibst du zu Hause?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht geh’ ich spazieren.«
»Mit …«
Sie lächelte verkrampft. »Nein. Heute macht er einen Ausflug, mit der Familie.«
»Ach so. Soll ich nachher mal anrufen?«
Sie nickte zerstreut, schon wieder in die Zeitung vertieft. »Ist in Ordnung.«
Die Polizisten fuhren mit Blaulicht durch die Stadt, als müßten sie ein Fußballspiel erreichen. Das Polizeigebäude lag dunkel und sonntäglich still da. Nur wenige Fenster waren erleuchtet und verrieten Leben dahinter.
Die beiden Wachtmeister begleiteten mich bis in ihr Büro. Dort wurde der eine auf der Stelle entlassen. Der andere blieb als Zeuge unseres Gesprächs da.
Anne-Kristine Bergsjø war gekleidet, als hätte sie eigentlich eine Tour ins Freie vorgehabt: ein rot-weißer Pullover mit Olympiamuster, blaue Kniebundhosen mit einem Schnitt völlig jenseits aller Uniformbestimmungen und dazu passende Strümpfe.
Sie lächelte ihr putziges Lächeln, mit schmalen, zusammengekniffenen Lippen, die sich an beiden Enden mit einer äußerst reservierten Herzlichkeit kräuselten.
Sie vergeudete keine Zeit mit Nebensächlichkeiten. »Na, Veum. Spuck’s aus.«
»Du hast mich also wiedererkannt. Willst du nicht irgend so was sagen wie, daß du nicht vermutet hättest, daß ein Marathonlauf so hart wäre?«
»Ich weiß, daß er nicht so hart ist. Was hast du zu sagen?«
»Herzlichen Dank für soviel Anteilnahme.«
»Oh, gern geschehen«, sagte sie säuerlich.
»Dieser Axel Hauger, den ich am Donnerstag erwähnt habe – habt ihr ihn aufgespürt?«
Sie verdrehte die Augen. »Ich habe dich gebeten zu erzählen, Veum.«
Da ich nichts sagte, stieß sie mit irritierter Miene hervor: »Nein, wir haben ihn nicht aufgespürt. Er ist für ein paar Tage in Schweden. Wir haben mit seiner Frau gesprochen, und er wird uns anrufen, sobald er zurück ist.«
»In Schweden?«
»Ja.«
»Habt ihr seine Frau nicht gefragt, ob …«
»Nein, haben wir nicht. Das, dachten wir, wollten wir dir überlassen, Veum.«
»Spar die deine Ironie für einen anderen Sonntag, Bergsjø.«
»Also, was willst du mir über Axel Hauger erzählen?«
»Warum, glaubst du, mußte er gerade jetzt nach Schweden?«
Sie stand abrupt auf. »Du hast die Wahl, ein für allemal. Entweder erzählst du, was du zu sagen hast – oder du verbringst das restliche Wochenende in Gewahrsam.«
Der Wachtmeister nickte. Er war hundert Prozent ihrer Meinung und hätte mich jederzeit vergewahrsamt, wenn sie ihn nur gelassen hätte.
»Das war eine rein rhetorische Frage! Eine Art zu erzählen, ich meine …«
»Also los!«
»Okay, okay. Ich habe zufällig ein Gespräch zwischen ihm und seiner Frau mitgehört.«
»Und wo?«
»Äh, im Markvei.« Schnell lügte ich hinzu: »Das mich annehmen ließ, daß er Backer-Steenberg unter Druck setzte – und ihn im Zusammenhang mit seiner Teilnahme am Oslo-Marathon bedrohte.«
»Und was hat Backer-Steenberg mit der Geschichte zu tun?«
»Ich habe seinen Anwalt getroffen, Asbjørn Hellesø, und …«
»Warst du bei Hellesø?«
»Ja, ich …«
»Hab’ ich dir nicht klare Order gegeben, dich da rauszuhalten?«
»Nein, eben gerade nicht. Du solltest vielleicht die Protokolle no …«
»So was nehmen wir nicht auf, Veum! Wenn ich es da nicht gesagt habe, dann sag’ ich es eben jetzt. Von jetzt an hältst du dich absolut aus allem raus, was mit dem Fall zu tun hat. Er ist gesundheitsgefährdend, im wahrsten Sinne des Wortes.«
»Was ich sagen wollte, war – Asbjørn Hellesø und ich sind alte Studienkollegen, und da ich schon mal in Oslo war … Und dann traf ich mit ihm zusammen zufällig Backer-Steenberg, und als ich später diese Drohung mithörte, da … Tja, ich habe mich bei Backer-Steenberg gemeldet, am Freitag, und ihn davor gewarnt zu laufen.«
Sie schloß die Augen und öffnete sie wieder. »Das geht mir zu schnell, Veum. Kein Wunder, daß Hamre … Gut, aber er nahm die Warnung nicht ad notam, versteh’ ich dich recht?«
»Nein. Statt dessen lud er mich ein, mit ihm zu laufen, als eine Art Leibwächter, aber – tja, er lief mir davon.«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Mit Freuden, denke ich.«
»Und als ich ihn im Bislett-Stadion wiedersah, hob er seine Trinkflasche und trank auf mich, und … Ich bin mir ziemlich sicher, daß in der Flasche Gift war. Habt ihr sie gefunden?«
»Hör zu, Veum. Vorläufig ist das ein für uns äußerst nebensächlicher Fall. Backer-Steenberg wird obduziert, aber es ist noch kein Bericht eingegangen. Was mich interessierte, war, welche Zusammenhänge du siehst zwischen diesem Fall und dem im Oslo Plaza.«
»Hör zu, Anne-Kristine …«
»Bergsjø, wenn ich bitten darf.«
»Oberinspektor Bergsjø, es gibt einen Zusammenhang. Asbjørn Hellesø hat in Groruds Büro angerufen, während Vassenden und ich da waren; er wollte für Backer-Steenberg einen Termin abmachen. Axel Hauger hat Backer-Steenberg bedroht, das weiß ich. P. E. Jansson stand auch in Verbindung mit Grorud.«
Sie schüttelte herablassend den Kopf. »Diese Behauptung baut also auf dem überzeugenden Faktum auf, daß beide vor ein paar Tagen im selben Büro anriefen?«
»Und daß sie beide tot sind, mittlerweile! Vergiß das nicht.«
Sie sah mich forschend an, lange. »Ich glaube, daß du irgend etwas vor uns verbirgst.«
Sie hatte recht. In der Tasche.
»Du verheimlichst etwas.«
Vielleicht hätte ich sie bitten sollen, mich abzutasten? Dann wäre es überstanden gewesen.
Sie deutete vage auf mein Gesicht. »Dieser Überfall … Willst du mir davon erzählen?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Das war in der Møllergate, gestern am späten Abend. Ein paar ausländische Jugendliche, möglicherweise in einem roten Ford Escord mit einem Fuchsschwanz hinter der Heckscheibe. Sie wurden von einer Horde Nazipöbel nach Walhall und wieder nach Hause gejagt.«
»Das klingt eher, als hättest du das Pech gehabt, dich in der Schußlinie zwischen zwei Fronten zu verirren. Solche Zusammenstöße haben wir fast jedes Wochenende in der Gegend. Das hat wohl kaum etwas mit unseren Fällen zu tun.«
»Das einzige war, daß ich glaube ihr Auto schon mal gesehen zu haben.«
»Das der jugendlichen Einwanderer?«
»Ja.«
»Und wo?«
»In der Urtegat, Freitag nachmittag. Da, wo Grorud Inkasso am Mittwoch sein Büro hatte. Und wo Oberwachtmeister Pedersen und ich am Donnerstag vergeblich gesucht haben.«
»Und am Freitag …«
»… war es noch genauso leer.«
»Und du meinst, daß diese Jugendlichen in dem Auto – erstens irgendwas mit dieser Sache zu tun hätten, zweitens dich in der Urtegate beobachtet hätten und drittens sich die Mühe gemacht hätten, dir zu folgen und dich am Samstag abend zu verprügeln?«
»Na ja, nein … Ich bin ziemlich sicher, daß sie mich nicht verfolgt haben.«
»Woher wußten sie, wo du warst?«
»Tja …«
»Also du siehst … Zufälle, Veum. Vergiß den Teil der Geschichte. Wir haben eine Reihe von ihnen im Archiv. Wenn du den Fall anzeigen willst, kannst du es nachher durchblättern.«
»Ich weiß nicht, ob es der Mühe wert ist.«
»Wenn nicht, dann komme ich zurück zu Backer-Steenberg und der eventuellen Verbindung zum Oslo-Plaza-Fall.«
»Hör zu. Wenn wir, und sei es nur theoretisch, annehmen, daß Frau Hauger wirklich die Merete Sjøwold ist, die ich glaubte wiedererkannt zu haben.«
Sie lächelte kalt. »Was dann?«
»In dem Fall wäre sie die Witwe des schwedischen Großindustriellen Fredrik Loewe. Er und Backer-Steenberg hatten sehr enge Beziehungen, geerbt von ihren jeweiligen Vätern. Waffenindustrie.«
»Aha, und weiter?«
»Tja … Jansson war Schwede, Fredrik Loewe auch, und Axel Hauger ist es noch, auch wenn er versucht, es zu vertuschen, wenn er in Norwegen ist.«
»Es ist nicht strafbar, Schwede zu sein, Veum. Diese Argumentation ist genauso überzeugend wie die, daß beide am selben Vormittag bei Svein Grorud angerufen haben.«
»Backer-Steenberg hat sich aus dem Waffengeschäft zurückgezogen, 1987, wie es scheint, um voll und ganz auf Öl umzusteigen.«
»Woher weißt du das?«
»Es steht in den Zeitungen. Vielleicht steckten ganz andere Gründe dahinter, Meinungsverschiedenheiten, die noch heute bei den Beteiligten für böses Blut sorgen.«
»Vielleicht ist das Stichwort für alles, was du sagst, Veum. Wir bei der Polizei sind auf Fakten angewiesen.«
»Es ist ein Faktum, daß Backer-Steenberg und Fredrik Loewe miteinander Geschäfte gemacht haben.«
»Aber ist es ein Faktum, daß Axel Haugers Frau Fredrik Loewes Witwe ist?«
»Vielleicht solltet ihr mal beim Einwohnermeldeamt anrufen?«
»Und wenn nicht, wo ist dann die Verbindung zu – beispielsweise Jansson?«
»Tja …« Die Antwort war peinlich einfach. Sie lag in meiner Jackentasche, auf einem Foto von 1986.
»Ich glaube, wir vergeuden unsere Zeit, Veum. Wenn du nicht mehr zu erzählen hast, habe ich anderes zu tun.«
»Meldet ihr euch, wenn Backer-Steenberg obduziert ist?«
»Ob wir uns melden?« Sie sah ironisch den Wachtmeister an. »Haben wir eine Meldepflicht an Privatermittler, Hansen?«
»Ich meinte, wenn sich herausstellen sollte, daß …«
»Wenn es sich herausstellen sollte, daß wir etwas Interessantes finden, kann es sein, daß wir dich zu einem erneuten Verhör einberufen, Veum. Wenn nicht, hörst du hoffentlich nie wieder von uns. Sollte dir etwas einfallen, das du vergessen hast, uns zu erzählen, dann hab bitte keine Angst anzurufen. Aber dann solltest du konkrete Informationen für uns haben, verstanden?«
Ich hatte verstanden. Sie war schärfer als ein Januarwind. Und das Lächeln, das sie mir mit auf den Weg gab, kämpfte mit starkem Gegenwind.
Hansen begleitete mich bis ganz nach unten und hinaus.
Die Sonne hatte das Seidenpapier, in das sie verpackt war, noch nicht durchdrungen. Es war ein unverkennbarer Herbstgeschmack in der Lutt, bitter wie Vogelbeeren und süß wie Salpetersäure.
Ich ging Grønlandsleiret entlang in Richtung Zentrum. In die Urtegate ging ich nicht. Und ich sah auch keine roten Ford Escords.
Zwischen der Vaterlands Bru und dem Lilletorg traf ich wieder auf etwas, das an einen Demonstrationszug erinnerte. Es stellte sich als muslimische Prozession heraus, geprägt von Feierlichkeit und einer Art demonstrativer Freude.
Ganz vorn trugen zwei Männer ein grünes Banner mit einer weißen Aufschrift in Arabisch und Norwegisch: DER GEBURTSTAG DES PROPHETEN MOHAMMED. – Weiter hinten folgten weitere Banner, einige in Arabisch, andere in Norwegisch. Auf einem stand: ISLAM – DER WEG ZUM FRIEDEN AUF ERDEN.
Männer jeden Alters, von weißbärtigen Patriarchen bis zu Schuljungen, sangen mit Kopfstimme religiöse Lieder. Sie trugen ihre schönsten Kleider, und es war nicht eine einzige Frau unter ihnen.
Eine kleine Anzahl Norweger blieb auf dem Bürgersteig stehen und betrachtete sie, als seien sie eine Art verspäteter 17.Mai-Zug am Tag danach, ein Kinderzug, der den Bus verpaßt hat.
In der Stenersgate bog der Zug nach rechts in die Lybekkergate ab. Ich selbst ging geradeaus weiter zum Hauptbahnhof und zum nächsten Telefonbuch.
Aud Finstad wohnte in Nesoddtangen. Es erschien mir klüger, sie nicht anzurufen und anzufragen, ob sie oder ihr Mann Gäste empfingen.

36

Die Fähre nach Nesoddtangen fuhr von Aker Brygge ab. In vielerlei Hinsicht war es die perfekte Art, Oslo zu verlassen. Im Sommer konnte man oben an Deck sitzen, in der letzten Ausgabe der Tageszeitung blättern und den Sonnenschein genießen, während die Stadt hinter einem zu einer schmalen Silhouette auf einer flachen Postkarte schrumpfte. Im Winter konnte man in den Aufenthaltsraum hinuntersteigen, mit einem zufälligen Mitpassagier ein Gespräch anzetteln, die gleiche Zeitung lesen und auf diese Weise Autoschlangen und Verkehrsstaus entgehen.

An diesem Septembersonntag war der Himmel weiß, das Meer grau. Die einzigen Passagiere außer mir waren eine Familie auf dem Weg zu einem Sonntagsessen bei Oma und Opa, ein junger Mann mit einem Strauß Blumen in der Hand und einem Anflug von schlechtem Gewissen im Gesicht und eine sehr müde Frau Anfang Vierzig, so müde, daß sie kaum die Augen öffnete, bis wir am Kai anlegten.

Nesodden erhob sich in bedächtigem Profil, mit freundlich gedämpften Farben in dunstigem Licht, wie eine Art distanzierter Idylle, wahrscheinlich infolge des angenehmen Abstands zur Stadt.

Aud und Bjørn Finstad wohnten in einem braunen Krähenschloß unten am Wasser, diskret versteckt hinter einer hohen Hecke und einer Holzpforte, die schrie, als ich sie öffnete, als sei es seit langem das erste Mal. Vor dem Haus führte ein abgenagter Rasen zum privaten Strandstück. An einem morschen Holzsteg lag ein poröses Ruderboot sicher vertäut, allerdings mit dem Hinterteil unter Wasser. Das Haus sah dunkel und unbewohnt aus.

Der Haupteingang lag auf der Nordseite. Ich stieg eine kleine Treppe hinauf. Das Schild neben der weißen Tür verkündete: Finstad. Ich drückte auf einen Klingelknopf inmitten einer altmodischen Metallrosette.

Es verging ungefähr eine Minute, dann wurde ein Fenster im ersten Stock einen Spaltbreit geöffnet. Ein ovales Frauengesicht spähte heraus, mit trockenen, mageren Zügen und so straff frisiertem dunklem Haar, daß es an einen Ebenholzrahmen erinnerte.

»Ja?« sagte sie mit flacher, tonloser Stimme.
»Mein Name ist Veum. Spreche ich mit Aud Finstad?« Sie sah aus, als müsse sie erst überlegen. »Ja.«
»Thorbjørn Finstad, ist er zu Hause?«
Erneute Denkpause. »Er wohnt hier nicht mehr.«
»Ja, das weiß ich. Aber mir ist gesagt worden, daß er dieses

Wochenende Hafturlaub hat, und da dachte ich, er sei hier.« »… Hafturlaub? Thorbjørn? Er kommt nie hierher.« Ich knetete meinen Nacken. »Könnten wir beide vielleicht

kurz miteinander sprechen?«
»Worüber?«
»Über Finstad und das, was damals wirklich passiert ist?« »… wirklich – passiert?« Ich fing an, mich an ihre Pausen zu

gewöhnen. »… wann, damals?« Entweder streßte es sie, oder sie hatte getrunken. »W-warte einen Moment!«
Sie zog das Fenster wieder zu und verschwand.
Eine ganze Weile später hörte ich drinnen Schritte. Die Tür wurde einen Spalt geöffnet. Über eine Sicherheitskette spähte sie hinaus.
»Was sind Sie? Journalist?«
»Nein. Privatermittler.«
»Nicht von der Po-Polizei also?«
»Nein.«
Sie hatte tatsächlich getrunken. Ein süßer Dunst von gelagertem Portwein umgab sie wie eine Wolke, und sie hatte Schwierigkeiten, den Blick zu konzentrieren. Ihre Augen waren hellbraun: Haselnüsse, die einen allzu zähen Dezember lang in der Schale gelegen hatten.
»U-und für wen?«
»Wer mich engagiert hat, meinst du?«
»… ja?«
»Ein Mann, den du kaum kennen wirst. Er ist tot.«
»Versuch’s doch mal. Ich kenne viele Tote.«
»Mons Vassenden aus Bergen.«
»Nein. Den kenne ich nicht.« Sie schob die Tür ein Stück wieder zu, hängte die Sicherheitskette aus und gab mir nach einem erneuten unauffälligen Blick in Richtung Nachbargrundstück ein Zeichen, daß ich hereinkommen solle.
Dann standen wir in einem dunklen Vorraum mit öligen Paneelwänden. »Legen Sie doch da vorn ab, und kommen Sie hier herein … Ein Glas Sh-Sherry?«
»Ja, gern.«
Ich folgte ihr in ein riesiges Wohnzimmer, in hellen Farben gehalten und mit Panoramafenster zum Fjord. Der Wintergarten war von braunen, verkrüppelten Pflanzen überwuchert wie nach einem langen, trockenen Sommer ohne Pflege, und es war lange her, daß jemand die Fenster geputzt hatte.
»… ich will nur eben …« Ohne weitere Erklärung verließ sie den Raum.
Ich sah mich im Raum um.
Die Gemälde an den Wänden stellten Landschaften dar, einige den Fjord vor mir, hellblau an schimmernden Sommerabenden, mit Menschen in Kleidern aus den 1890er Jahren, die in Ruderbooten unterwegs waren. Andere zeigten das alte Kristiania, die Industriebebauung am Akerselv, Nachmittagsspaziergänge auf der Karl Johan, ein Hochfjell irgendwo, von Heide bedeckte Ebenen vor Bergspitzen, auf denen noch der Schnee des Winters lag.
Auf einem Sekretär standen mehrere Fotografien, alle schwarzweiß, von Aud Finstad selbst, vor drei Jahrzehnten, in der Positur und den Kleidern der sechziger Jahre. Auf einem der Bilder posierte sie vor der London Bridge, im Minirock, mit hochgestecktem Haar und vorn flach wie ein Bügelbrett. Auf einer Nahaufnahme sah man ihre Züge deutlicher: ein etwas zu gezwungenes Lächeln auf einem etwas zu starren Gesicht, auch dieses deutlich geprägt durch das große Vorbild der Epoche, das spindeldürre Supermodel Twiggy.
Mit einem eigenartigen Déjà-vu-Gefühl erkannte ich sie wieder. Das Glücksrad hielt bei ihrem Namen. Aber was ich da gewonnen hatte, dessen war ich mir noch nicht sicher.
Ich hörte Schritte hinter mir. Sie kam mit einem Tablett in der Hand vom Buffet. Darauf standen zwei Gläser und eine Karaffe mit einer goldbraunen Flüssigkeit, die, wie ich annahm, der Alibi-Sherry war.
Sie stellte das Ganze auf einen kastanienfarbenen Rokokotisch direkt vor den Wintergarten, der perfekte Ort, um zu jeder Jahreszeit die Aussicht zu genießen.
Ich drehte mich zu ihr herum, und sie sah an mir vorbei auf die Fotos. »… ja, das war ich, am Anfang meiner Karriere. – Auf dem Höhepunkt, wie sich später herausstellen sollte.« In ihrer Stimme war nicht die Spur von Bitterkeit. Es war ein nüchternes Konstatieren von Tatsachen.
Ich betrachtete sie. Sie trug ein einfaches, gerade geschnittenes hellbraunes Kleid, das nicht darüber hinwegtäuschen konnte, daß sie noch dünner war als damals in den sechziger Jahren. Ihre Handgelenke waren schmal wie Narzissen und die Waden dünn wie Stuhlbeine, auch sie Antiquitäten. Das machte sie älter, als sie war: eben unter fünfzig, wie ich.
»Du warst Model – in London?«
»Ja … Ich … Wollen Sie sich nicht setzen?«
Sie bewegte sich vorsichtig, als sei sie aus Kristall, und mir war klar, daß sie Angst hatte zu fallen.
»Ja, natürlich, danke.«
Ich schob ihr einen Stuhl zurecht und erlaubte mir einzuschenken. Sie ergriff ihr Glas sofort und leerte es halb, ehe ihr aufging, daß das vielleicht nicht ganz die feine Art war; abrupt stellte sie es wieder hin. Ein blasses Lächeln flog über ihr Gesicht wie ein flüchtiger Sonnenstrahl.
Sie strich sich mit der Hand über Brust und Bauch. »Das war damals, als man so aussehen sollte, wie – ich es tue. Wir waren alle Twiggy-Kopien, und London war voll von uns. Und von Männern, die uns haben wollten – ich meine, so eben. Fotografen, Modeschöpfer, Schriftsteller. Und für ein Mädchen aus Norwegen war es kein Zuckerschlecken, so Hals über Kopf in Swinging London zu landen, das können Sie mir glauben. Sie – wie war doch gleich Ihr Name?«
»Veum. Varg Veum. Wir sind uns übrigens schon mal begegnet.«
»Ach ja?« sagte sie unbeteiligt; sie schien sich nicht dafür zu interessieren, wann und unter welchen Umständen. Sie war so vielen begegnet.
»Zusammen mit Merete Sjøwold.«
»Mit Merete?«
»Du und ich und sie und einer, der Svend Høie hieß. – Erinnerst du dich an ihn?«
»Svend Høie?«
»Ich glaube, ihr wart zusammen – an dem Abend. Jedenfalls waren Merete und ich es. Im April 1965.«
»Das ist so lange her.«
»Aber an Merete erinnerst du dich?«
»Ja, natürlich.«
»Wann hast du sie zuletzt getroffen?«
»Ich habe sie seit – seit 1987 nicht mehr gesehen. Aber ich habe niemanden mehr gesehen seit 1987.«
»Ach nein? Dann hast du also auch die Gerüchte nicht gehört, denen zufolge sie tot sein soll?«
»Merete? Tot?«
»Ja?«
»Nein, das …« Ein plötzlicher Ausdruck von Angst trat auf ihr Gesicht. »Nein, das hab’ ich nicht gehört. Ich kann mich auch nicht erinnern, eine Todesanzeige gesehen zu haben.«
»Doch, es gab tatsächlich eine, im Juli 1989.«
»Oh … Dann stimmt es also?«
»Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht.«
»… jetzt verstehe ich nicht ganz …«
»… sagte die Braut am Morgen danach. – Aber vor 1987 hast du sie getroffen?«
»Jaja. Wir haben Kontakt gehalten, als ich in England war, und auch danach, als ich zurückkam und sie in Schweden wohnte.«
»Ja. Habt ihr beide dann vielleicht Thorbjørn Finstad – ich meine, deinen Mann und Fredrik Loewe miteinander bekannt gemacht?«
»Ja, das stimmt. Wir haben uns ein paarmal getroffen, in ihrem Landhaus, außerhalb Stockholms, bei uns in Gol, oder – irgendwo anders.«
»Ganz privat, mit anderen Worten?«
»… ja.«
»Dein Mann und Fredrik Loewe – hatten sie geschäftlich miteinander zu tun?«
»Was meinst du damit?«
»Dein Mann hatte doch sehr verschiedene Interessen – und viele Kontakte, sowohl in Politiker- als auch in Wirtschaftskreisen, oder?«
»Mhm.«
»Loewe war in der Waffenindustrie. Hat dein Mann jemals davon geredet, da mit einzusteigen?«
»… er sprach so selten über so was.«
Sie saß da und starrte abwesend vor sich hin, so als machte sie aus reiner Höflichkeit mit mir Konversation.
Ich mußte augenscheinlich stärkere Geschütze auffahren. »Erzähl mir doch mal geradeheraus, was damals zwischen euch abgelaufen ist, ich meine, zwischen dir und Pål Helge Solbakken, 1987.«
»Pål Helge Solbakken? Das war der Fotograf …«
»Ja.«
»Da waren so viele Fotografen.«
»Du meinst …?«
Sie nickte zum Sekretär. »Die Bilder da, das sind nur die Familienfotos. Oben in meinem Zimmer habe ich die ganzen Wände voll. Fotos von mir, von 1967 – bis Anfang der siebziger Jahre. In allen möglichen Posituren und von allen möglichen Fotografen.«
»Meinst du …?«
»Ich war eine Barbiepuppe, so wie wir Models es gelernt hatten. Steh so, beug dich so. Lächle so, halt die Hand so. Nimm da fünf Kilo ab, rasier dich dort, schneid dir das Haar – so.«
Sie griff nach ihrem Glas. Die Hand zitterte. »Zum Schluß wirst du einfach – verrückt. Du bist nicht mehr du selbst. Du bist ein Bild auf glänzendem Papier, eine Nummer im Modelkatalog.« Sie strich sich unwillkürlich über die Innenseite ihres Unterarmes. »Du fängst an, Medikamente zu nehmen. Um durchzuhalten, um dich aufzuputschen, und dann, um dich wieder zu beruhigen. Solange du jung und neu im Fach bist, ein Gesicht, das niemand kennt, stehen die Auftraggeber Schlange. Aber eines Tages – eines Tages merkst du vielleicht, daß die Abstände zwischen den Aufträgen größer werden. Das Telefon klingelt nicht mehr so oft. In der Agentur sehen sie jedesmal an dir vorbei, wenn du kommst, um zu fragen, ob sie nicht etwas haben. Und die Männer, die anrufen, die wollen oft – die wollen keine Bilder mehr von dir machen. Alles, was sie wollen, ist eine zum Vorzeigen. Eskorte, was du willst, aber immer noch eine Barbiepuppe, immer noch eine, die tut, was der Fotograf sagt – zieh dich aus, leg dich so hin, die Beine auseinander, das Kinn hoch. – Verstehst du?«
»Ich verstehe.«
Mit einem klirrenden Geräusch schenkte sie sich Sherry nach. Mir bot sie keinen an. »Die Mädchen, die dem Druck nicht gewachsen sind, fallen aus der Rolle und enden als Prostituierte, zuerst in der Topklasse, aber später geht es schnell abwärts. Ich bin rausgekommen. Ich traf einen Norweger in einer Bar und fuhr mit ihm nach Hause – nach Oslo.«
»Thorbjørn Finstad?«
Sie hob ihr Glas auf meinen Scharfsinn. »Das war Thorbjørn, ja. Beim Tiefseefischen in Londons Rotlichtviertel. Und er bekam mehr an die Angel, als er erwartet hatte.«
»Ihr habt geheiratet?«
»Ungefähr ein Jahr später. Ich wurde wieder richtig aufgemöbelt, war noch jung und präsentabel, eine Frau, die man zu Premieren mitnehmen konnte, in die Oper oder ins Nasjonalteater, wo er, du wirst es kaum glauben, nach einer halben Stunde grundsätzlich einschlief, so sehr interessierte es ihn.« »Und …?«
»Und …?«
»1987. Was passierte da?«
»Was weiß denn ich?«
»Das dachte ich nun wirklich! Du hast vor Gericht als Zeugin ausgesagt.«
»Ich war so … Diese Jahre sind so – weit weg … Noch weiter als – 1965, oder wann?«
»Was ist passiert?«
»Mit uns?«
»Ja.«
»Wir haben 1974 geheiratet. Im Laufe der Achtziger ging die Emaille flöten. Die Abnutzung wurde – sichtbarer. Ich …« Sie wedelte mit der Hand vor dem Glas herum, wie um ein aufdringliches Insekt zu verscheuchen. »… begann, mich zu – betrüben – ich meine, ich war so betrübt – ich begann, mich zu betäuben – mit – so was.«
»Du begannst zu trinken, wolltest du sagen?«
»… ja! Ich dachte – es war besser, als zu er-er … Du verstehst schon. Alsssssso … Mit anderen Worten … Ich erinnere mich nicht mehr an viel aus den Jahren.«
»Aber du mußt dich doch daran erinnern, daß du mit Solbacken – daß ihr ein Verhältnis hattet!«
»Wir – hatten kein Verhältnis.«
»Aber … Er hat doch diese Fotos von dir gemacht – sie wurden dem Gericht vorgelegt.«
»Ich hab’s doch schon gesagt! Da waren so viele Fotografen, einer mehr oder weniger … Aber Thorbjørn war dabei.«
»Thorbjørn war wo dabei?«
»Als die Fotos gemacht wurden.«
»Als die Fotos gemacht wurden?«
»Ja. Und es war nicht derselbe Fotograf. So weggetreten war ich denn doch nicht – es waren trotz allem ziemlich – persönliche – Fotos, aber wenn Thorbjørn wollte, dann …«
»Warte mal. Es war nicht derselbe Fotograf, sagst du?«
»Nicht derselbe wie in der Zeitung. Auf den Fotos in der Zeitung. Der, den Thorbjørn … Pål Helge Solbakken.«
»Aber wann wurden …«
Sie starrte mich aus großen, verschreckten Augen an. Die Pupillen waren wie Stecknadelköpfe, und ich konnte das Blut durch die Adern seitlich an ihrem Hals pulsieren sehen. »Es war an dem Tag bevor – die Polizei kam und – Thorbjørn mitnahm.«
»Am Tag vorher! Aber der Mord geschah am Dienstag, und dein Mann wurde zwei Tage später verhaftet, am Donnerstag – dann müssen die Fotos nach dem Mord aufgenommen worden sein! – Am Mittwoch?«
»Müssen sie das?« fragte sie in einem Tonfall, als diskutierten wir über die Farbe von Gardinen, die sie sich eventuell kaufen wollte.
»Hör zu, Frau Finstad – Aud …«
»Ja?«
Sie war einmal eine markante Schönheit gewesen, eine kühle Sylphide, im April 1965, und ich sah sie vor mir, wie sie damals war. Durch all die Jahre der Abnutzung, durch die Schichten von Patina, die die Zeit auf ihrem Gesicht hinterlassen hatte, erkannte ich sie wieder, wie ich Merete wiedererkannt hatte, so daß ich mir jetzt noch sicherer war, daß es tatsächlich Merete Sjøwold war, die ich getroffen hatte.
»Sag mal, wer war damals der Anwalt deines Mannes, 1987?«
»Der Anwalt meines Ma … Hellesø, oder – hieß er nicht so?«

37

Auf der Fähre zurück in die Stadt versuchte ich, die neuen Mosaiksteine, die sie mir gegeben hatte, mit den alten zusammenzusetzen. Aber ich war noch nicht in der Lage, ein Muster in dem Ganzen zu erkennen, abgesehen davon, daß eine ständig wachsende Gruppe von Menschen in einen ständig wachsenden Komplex von Kriminalfällen verwickelt war, von 1987 bis heute. Fälle, die scheinbar nichts miteinander zu tun hatten, es sei denn, durch einzelne, zentral positionierte Personen.

Oslo wuchs aus dem Nachmittagsdunst wie eine unregelmäßige Zahnreihe, und das SAS-Hotel, die zwei Türme des Rathauses, das Postgirogebäude und das Oslo Plaza waren die herausragendsten Zähne. Das Rathaus von Schokolade verdreckt, die anderen mit Resten von Apfelsinenfleisch auf der Emaille, weil eine goldene Sonne gerade von Südwesten her die Wolkendecke durchbrach.

Auf der Aker Brygge hatten die etablierten Stadtstreuner die Straßencafés eingenommen, mit selbstzufriedenen Brieftaschen und glattem Grinsen.

An einem Kiosk aß ich schnell etwas, zwei Würstchen mit Brot und Lompe*, und spülte mit einem alkoholfreien Bier aus einem Plastikglas nach. Danach fühlte ich mich gestärkt für einen neuen Vorstoß in die geschützten Gesellschaftsschichten der Sozialklasse 1, repräsentiert durch einen meiner alten Freunde.

Von Aker Brygge aus ging ich an Ruseløkka vorbei zum Lapsetorg. Dies war das Revier der Schöngeister. Hier wohnten ältere Schauspieler, nur einen kurzen Fußmarsch vom Nasjonalteater entfernt. Hier lagen die Kunstgalerien, die so exklusiv waren, daß man seine Visitenkarte vorzeigen mußte, um hineinzukommen. Hier thronten Witwen und Rechtsanwälte; hier fuhren Diplomaten mit hoher Geschwindigkeit und in schwarzen, verdunkelten Wagen mit CD-Schild vorbei. Hier hatte man fast das Gefühl, sich nicht aufhalten zu dürfen, ohne seinen Versicherungsbeitrag bezahlt zu haben.

* Kartoffelfladen.

Asbjørn Hellesø wohnte auf der rechten Straßenseite, in einem Wohnblock, Ende des letzten Jahrhunderts gebaut, verziert mit Erkern und Türmen: ein großer Schritt nach oben für einen Mittelklasseproletarier aus Marken in Bergen.

Es wuchs kein Wald mehr im Skovvei, aber in den Vorgärten blühten die Herbstrosen, als wäre die ganze Straße ein Austragungsort für das diesjährige Dornröschenfest.

Die Eingangstür war verschlossen. Etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet. Ich klingelte, und kurz darauf erklang seine Stimme über den Lautsprecher wie bei einem schlechten Kurzwellenempfang. »Wer ist da?«

»Hallo, Asbjørn!« Ich sprach mit lauter Stimme. »Hier ist Varg! Ich dachte, ich sollte mal reinschauen.«
Es grunzte aus der Anlage.
»Hast du Zeit für einen Plausch?«
Wir waren eindeutig nicht auf derselben Frequenz. »Und worüber?«
»Na ja, über alles und nichts …«
»Ich glaube, ich habe keine …«
»… und über den Fall Finstad.«
Er verstummte. Dann ertönte: »Na gut. Okay! Alter Gauner.«
Im Schloß hatten sie noch eindrucksvollere Treppenhäuser, aber auch dies hier war nicht ohne. Marmorierte Stufen und klassische Säulenreihen führten die Stockwerke hinauf, vorbei an dunkelbraun lackierten Türen mit ovalen goldenen Türschildern – und die allermeisten Nachnamen hatten in der Mitte einen Bindestrich.
Asbjørn Hellesø trug eine Art Freizeitanzug britischen Stils: dunkelgrüne Cordhose, gemusterte Higginsjacke, kleinkariertes, hellbraunes Hemd und einen Schlips mit derben Querstreifen in Rot, Grün und Grau.
Durch einen langen, dunklen Flur, dessen Wände mit Büchern bedeckt waren, kamen wir in eine Art Raucherzimmer, nicht zuletzt nach dem dichten Nebel zu urteilen. Vor dem zugezogenen Fenster stand ein brauner Schreibtisch. Eine ausladende Stehlampe mit breitem Schirm warf ihr Licht über eine flache, mit Ochsenhaut bezogene Sitzgarnitur. In einem großen schwarzen Aschenbecher von der Größe einer Bratpfanne lag eine brennende Zigarre. Neben dem Aschenbecher stand ein niedriges Glas mit Whisky und Eis, und auf dem Boden vor dem komfortablen Sessel, in dem er gesessen haben mußte, lag ein imponierender Haufen Zeitungen: norwegische, schwedische, dänische und britische.
Er öffnete einen mit Teak verkleideten Kühlschrank und füllte Eiswürfel in ein Glas, griff nach einer Flasche Glenfiddich im Glasschrank daneben, schenkte ein und sagte: »Einen Whisky, Varg?«
»Sieht so aus«, sagte ich und nahm das Glas entgegen.
»Setz dich.«
»Danke.«
Das Polster seufzte, als ich mich setzte, wie es klang, vor allem vor Wohlbehagen.
Ich betrachtete ihn.
Er sah erschöpft aus. Das Haar war zerzaust, der nachlässige Charme so weit gestreckt, daß er langsam Risse bekam, und seine Bewegungen hatten etwas Unkoordiniertes, das verriet, daß es nicht das erste Glas Whisky war, an dem er heute nippte.
Er setzte sich schwer in den Sessel, griff nach dem Glas, ließ die Eiswürfel klirren, trank einen Schluck und starrte dann gedankenverloren hindurch, als sei es ein Reagenzglas und er gerade dabei, einen aufsehenerregenden Prozeß zu verfolgen.
»Es ist die Hölle, wenn etwas zu Ende geht, Varg.«
»Äh, wenn was zu Ende geht?«
Er sah mich an, knapp über den Rand seines Glases hinweg, als würde er über eine Kimme zielen. »Ich denke an Preben, natürlich. Arme Anne-Trine und die Kinder … Du solltest doch sozusagen auf ihn autpassen, oder nicht?«
»Er ist mir davongelaufen.«
Er setzte das Glas hart ab, hob die Hände zum Gesicht und rieb sich kräftig die Augen. »Aber was hilft es – zu reden!«
»Ihr hättet vielleicht doch auf mich hören sollen.«
»Was meinst du?«
»Er hätte nicht laufen sollen. Du warst selbst dabei, bei dem Treffen mit Hauger zwei Tage vorher. Das …«
»Ein geschäftliches Treffen. Dort wurden keine Drohungen ausgesprochen.«
»Nein, vielleicht nicht. Aber auf der Toilette, zwischen Backer-Steenberg und ihm.«
»So intime Beziehungen haben – hatten wir nicht, daß Preben mir anvertraut hätte, was ihm draußen im Pissoir an den Kopf geworfen wurde, Varg.«
»Nein?«
»Nein.«
»Wer ist dieser Axel Hauger eigentlich? Um was für Geschäfte ging es?«
»Axel Hauger?« Er rollte den Kopf hin und her, wie um den Nacken zu strecken. »Ein undurchsichtiger Schwede, der sich in den norwegischen Finanzmarkt hineingearbeitet hat, eine Art Benni Borg des Wirtschaftslebens, wenn du verstehst, was ich meine, mit dickem Akzent, aber nichtsdestoweniger mit dem Ziel, in Norwegen an die Spitze zu kommen.«
»Und was für Geschäfte waren es?«
»Kreditgeschäfte, Geldtransaktionen, Börsen- und Valutageschäfte. Das übliche. Preben mit Heimvorteil, immer mutig bei seinen Investitionen, etwas zu mutig ab und zu, wenn man seine Geschäftsführung fragt. Deswegen war ich dabei, als eine Art Bleifuß, um zu verhindern, daß er uns davonschwebte.«
»Bestand die Gefahr?«
»Nicht solange ich dabei war.«
»Aber dieser Hauger … Ich habe euch ja erzählt, daß ich zufällig mitgehört habe, was er sagte. Er behauptete, daß er etwas gegen Backer-Steenberg in der Hand hätte, das ihn zwingen würde zu zahlen, und wenn er nicht bezahlte, dann wäre eben – Gefahr im Verzuge. Aber was er in der Hand hatte, davon hast du keine Ahnung?«
Er wedelte mit den Armen. »In dieser Branche, Varg … Es kann alles sein, von Steuerhinterziehung bis zu was auch immer. Du befindest dich in einer juristischen Grauzone, wo ein Anwalt selten genug ist. Es schien jedenfalls nicht so, als hätte Preben es ernst genommen.«
»Das hätte er aber vielleicht sollen? Hast du die Todesursache erfahren?«
»Nein, nein. Ich habe mit Anne-Trines Schwester gesprochen. Anne-Trine selbst war völlig zusammengebrochen. Sie kommt aus Bergen, wußtest du das?«
»Ja.«
»Es hieß, Herzversagen, aber … Er hätte diesen Lauf nie mitmachen sollen, Varg!«
»War er nicht gut genug in Form?«
»Doch, doch, das glaub’ ich schon. Aber was zum Teufel soll das denn? Wovon versucht ihr euch selbst zu überzeugen – zweiundvierzig Kilometer die Straßen entlang, bei jedem Wetter, mit …«
»Wie lange bist du – wie lange warst du sein Anwalt, Asbjørn?«
»Seit Anfang der achtziger Jahre. 82, 83. Wieso?«
»Ich möchte dich etwas fragen. Weißt du von einem Treffen, im März 1986, zwischen folgenden vier Personen: Preben Backer-Steenberg. Thorbjørn Finstad, dem schwedischen Großindustriellen Fredrik Loewe – und einem anderen Schweden, Pär Elias Jansson?«
Er schüttelte langsam den Kopf »Nein.« Dann erhob er sich, um die Whiskyflasche zu holen, schenkte sich ein, schickte mir einen fragenden Blick, schenkte mir auf mein Zeichen auch ein und stellte die Flasche wieder auf den Tisch zwischen uns.
»Aber du kennst die Namen?«
»Einige, ja. Aber diesen – wie hast du ihn genannt – Jansson, den nicht.«
»Ja. Eine Art schwedische Ausgabe von Svein Grorud. Auf dem Bild überreicht ihm Backer-Steenberg einen Umschlag.«
»Auf dem Bild?«
»Jaa, äh, ein Foto, das ich von ihnen gesehen habe.«
Er beugte sich schwer nach vorn. »Du hast ein Bild von ihnen gesehen?«
»Ja?«
Er richtete sich auf und lehnte sich wieder zurück. »Schon gut, es ist nur so komisch, daß du – die Art, wie du es gesagt hast. Aber okay, sprich weiter.«
»Es wäre doch möglich, daß in dem Umschlag Geld war, vielleicht ein Kredit im Rahmen des grauen – um nicht zu sagen des schwarzen – Geldmarktes, den Backer-Steenberg zurückzahlte.«
Er zuckte mit den Schultern. »Tja – und weiter?«
»Wir wissen, daß Jansson vor weniger als einer Woche Kontakt zu Grorud hatte, wahrscheinlich auch zu Hauger. Könnte Hauger Backer-Steenberg in diesem Zusammenhang unter Druck gesetzt haben?«
»Ich … pff! … was weiß ich?«
»Fredrik Loewe kanntest du?«
»Na ja, kaum. Er und Preben hatten früher mal gemeinsame Interessen, bis Preben seinen Anteil verkaufte.«
»An wen verkaufte er?«
»Das weiß ich nicht mehr. Zurück nach Schweden, soweit ich mich erinnern kann.«
»Hast du jemals Loewes Frau getroffen?«
»Nein. Nein, hab’ ich nicht. Loewe ist tot, ich weiß nicht, ob du – er kam bei einem Autounfall ums Leben.«
»Seine Frau wohl auch.«
»So? Ja, das ist möglich.«
Ich schlürfte meinen Whisky. Die Schotten haben einen eigenen Kniff, dem Moorwasser Honig zu entlocken und ihn mit reifer Gerste zu würzen. Er legte sich wie Heidekraut auf meine Zunge, eine Heidelandschaft bei herbstlicher Landbrise, und nur die Eisklumpen erinnerten an den November.
»Aber Thorbjørn Finstad – den kanntest du doch gut? Ihn hast du mal verteidigt.«
»Daß du jemanden verteidigst, bedeutet nicht notwendigerweise, daß du ihn auch kennst.«
»Nein, klar. Aber an den Fall, an den erinnerst du dich?«
»Natürlich. Es war nichts Außergewöhnliches daran. Ein zu hundert Prozent durchschnittlicher norwegischer Mord aus Eifersucht.«
»Hundert Prozent? Und was ist mit den Fotos, die dem Gericht vorgelegt wurden?«
»Die Fotos von Frau Finstad? Was soll damit sein? Statt sie auf frischer Tat zu ertappen, fand er Fotos von ihnen. Das Reaktionsschema war dasselbe.«
»Fotos von Solbakken und Frau Finstad, zusammen?«
»Nein!« Er stand auf und ging zum Schreibtisch. »Solbakken hat die Fotos gemacht. Von ihr.«
Er schloß eine Schublade auf, zog sie ganz heraus und stellte sie auf den Schreibtisch. Dann schob er die Hand in die Öffnung, in der zuvor die Schublade gewesen war, und ich hörte das Klicken einer Tür, die dahinter geöffnet wurde. Dann kam die Hand wieder hervor, mit einem großen, gelben Umschlag.
Etwas schwerfällig richtete er sich auf. Er ließ die Schublade stehen, öffnete den Umschlag, nahm eine Handvoll Fotos heraus und ging wieder zu seinem Sessel, um sich zu setzen. Dann gab er mir die Fotos, eines nach dem anderen.
Die Beschreibung war soweit korrekt. Solbakken war nicht auf einem einzigen Bild zu sehen. Nichts verriet, daß es sein Finger gewesen war, der den Auslöser bedient hatte. Aud Finstad hingegen befand sich durchaus in Reichweite für Finger und andere Körperteile.
Die Bilder waren in einem Schlafzimmer aufgenommen, vor einem großen Bett, aber Aud Finstad befand sich selten darauf. Die bevorzugte Stellung war eine, in der sie stand und sich weit nach vorn zu den Bettpfosten beugte, die Beine weit gespreizt und den Hintern dem Fotografen zugewandt, während sie ihren Kopf leicht drehte und ihn ansah; der Blick verschleiert, aber kaum vor Geilheit. Auf einem anderen Bild war sie von vorn aufgenommen. Vielleicht war das die einzige Möglichkeit, ihre Brüste hervorzuheben, denn auf einem anderen Bild, wo sie auf dem Boden vor dem Bett saß wie an einem Badestrand, wirkten sie nicht viel größer als zwei Mückenstiche, und auf dem einzigen Bild, das im Bett aufgenommen war, lag sie auf dem Rücken, flachbrüstig wie ein Junge, aber die Beine so weit gespreizt, daß nicht für eine Sekunde ein Zweifel darüber bestand, welchem Geschlecht sie angehörte.
Sie war viel zu dünn. Die Schenkel waren nicht viel kräftiger als meine Unterarme, der Po wie zwei geballte Fäuste, und man konnte ihre Rippen zählen. Ihre Scham war wie ein gerupfter Krammetsvogel, mit einer offenen Flanke, aus der man die Innereien herausgenommen hatte.
Die ganze Serie hatte etwas Kaltes und Unerotisches. Sie war genau so, wie sie es mir vor ein paar Stunden beschrieben hatte: Steh so, sieh hierher, öffne den Mund, denk an was Schönes … Sie war eine Holzpuppe, die der Mann hinter der Kamera aufgestellt und zurechtgebogen hatte für die verschiedenen Stellungen, ohne einen Blick in ihre Augen zu werfen.
Wenn das hier Beispiele für Pål Helge Solbakkens Fotokunst waren, dann war uns bei seinem plötzlichen Fortgang jedenfalls kein Meisterfotograf verlorengegangen.
»Hätte es dir gefallen, deine Frau auf solchen Bildern zu sehen, Varg?«
»Nicht mit sowenig Fleisch am Körper.«
»Oh, halt die Schnauze!«
»Was an diesen Bildern verriet denn, daß es Pål Helge Solbakken war, der sie gemacht hatte?«
»Sie lagen in einem Umschlag, auf dem sein Firmenname stand.«
»War das alles?«
Er schüttelte den Kopf. »Das Bett, wo … Die Bilder wurden in Finstads eigenem Schlafzimmer gemacht. Als er sie fand, konfrontierte er seine Frau damit, und sie brach zusammen – gab alles zu, daß sie und Solbakken ein Verhältnis hatten und so weiter. Diese … hatten sie nur so zum Spaß gemacht.«
»Soso.«
»Finstad war ein temperamentvoller Herr. Er nahm den Wagen und fuhr in die Stadt, ging zu Solbakken – um ihn zu verprügeln, wie er sagte. Solbakken leistete Widerstand …«
»Kein Wunder.«
»Etwas zu starken Widerstand …«
»Aha.«
»… und Finstad ging zu hart zu Werke. Als er ging, lag Solbakken offenbar leblos in seinem Atelier. Und er wachte nie wieder auf. Er starb an den Folgen der Verletzungen.«
»Schön ist das nicht.«
»Das sind die wenigsten Morde aus Eifersucht, Varg. Ich habe einige gesehen.«
»Und es war also wirklich ein Mord aus Eifersucht?«
»Warum fragst du das? Was sollte es sonst gewesen sein?«
»Ich frage, weil ich von Aud Finstad komme. Sie sagt, sie habe nie ein Verhältnis mit Solbakken gehabt.«
»Was?«
»Solbakken wurde an einem Dienstag umgebracht. Sie behauptet, daß diese Fotos am Mittwoch entstanden seien, am Tag bevor Finstad verhaftet wurde, und in dessen Beisein. Und daß er es gewesen sei, der sie – so haben wollte.«
»Finstad selbst? Ehrlich, Varg. Die Dame ist so weggetreten, daß sie keine Ahnung hat, was sie sagt. Es gibt gerichtliche Zeugenaussagen, die das Gegenteil behaupten.«
»So weggetreten, daß man sie dazu bringen konnte, alles mögliche zu sagen, auch vor Gericht?«
»Varg, worauf willst du …«
»Kannte Finstad Solbakken schon vorher?«
»Nein, es kam nichts heraus, was darauf hindeutete.« »Wie hatte seine Frau ihn kennengelernt?«
»Sie waren ins Gespräch gekommen, bei einer Fotoausstellung, wenn ich mich nicht – doch.«
»Aber Solbakken hatte Finstad schon einmal fotografiert.«
»Ach ja?«
»Zirka zehn Jahre vorher, im März 1986. Das Bild, von dem ich vorhin sprach, mit unter anderen Backer-Steenberg.«
»Hat Solbakken das gemacht?«
»Um deine eigene Beweisführungsmethode zu benutzen: Es lag jedenfalls in einem Umschlag, auf dem sein Firmenname stand. Wer hat dich gebeten, Finstad zu verteidigen? BackerSteenberg?«
»Nj-nein. Er hat sich selbst an mich gewandt.«
»Nj-nein? Was zum Teufel ist denn das für ein Dialekt? Bist du nicht sicher?«
»Klar bin ich sicher, verdammt! Das ist alles ein paar Jährchen her, Varg!«
»Das stimmt. Fünfeinhalb, ziemlich genau.«
Wir saßen da und starrten einander an, mit roten Rändern um die Augen. Auf dem Tisch zwischen uns lagen die Fotos von Aud Finstad in unordentlicher Fächerform. Die beiden Gläser waren so gut wie leer, die Eiswürfel geschmolzen. Von außen betrachtet, mußten wir aussehen wie zwei Lebemänner mittleren Alters, die keine andere Freude mehr haben als Schnaps und Nacktfotos.
Ich fühlte mich deprimiert und leicht aggressiv. Irgend etwas stimmte nicht. Das Ganze war ein verschobenes Parallelogramm, dessen Flächeninhalt auszurechnen mir noch nicht gelungen war.
»Du bist immer noch sein Anwalt, stimmt’s?«
»Finstads?«
Ich nickte.
»Er meldet sich bei mir, wenn er Unterstützung braucht, ja.« »Wußtest du, daß er an diesem Wochenende Hafturlaub hatte?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, daß man ihm ein paar freie Wochenenden bewilligt hat, ja. In diesem Fall gibt es keinen Grund, eine Wiederholung zu befürchten. Der Mord an Pål Helge Solbakken war ein Einzelfall, für ihn selbst ebenso tragisch wie für das Opfer. Er hat dabei auch sein eigenes Leben verspielt.«
»Weißt du, wohin er geht, wenn er Ausgang hat?«
»Nein.«
»Seine Frau hat er nicht besucht. Sie sind noch immer verheiratet?«
»Ich habe nichts Gegenteiliges gehört.«
»Und du hast keine Ahnung, wen er besucht?«
»Nein, hab’ ich doch gesagt!«
»Hör zu, Asbjørn. Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«
»Und zwar?«
»Ich möchte, daß du mir Zugang zum – daß du eine Verabredung für mich triffst, so daß ich ihn besuchen kann. Morgen.«
»Finstad besuchen? In Ullersmo? – Ich würde nicht …«
»Ich verlange es, Asbjørn!«
»Und was gibt dir das Recht …«
»Wenn nicht, gehe ich mit Aud Finstads Aussage zur Presse. Den Dienstag und den Mittwoch betreffend, sozusagen.«
»Okay, okay, okay! Ich werde anrufen. Es ist sicher eine ganz einfache Sache. Ruf morgen früh mein Büro an, dann bekommst du Bescheid.«
»Aber vergiß es nicht!«
Er machte eine Bewegung mit den Lippen, als hätte er etwas Bitteres probiert. »Und jetzt, finde ich, solltest du gehen, Varg. Ich mag nämlich deinen Ton nicht. – Unsere Freundschaft von damals, die ist nicht nur gerostet, sondern hat sich total aufgelöst. Ich hoffe, daß ich deine schmierige Visage nie wieder sehen muß.«
»Oh, du siehst schmierigere Visagen als meine, jeden Tag am Gericht, würde ich tippen.«
Er stand auf, durchquerte den Raum und öffnete die Tür. Die Hand an der Klinke, blieb er stehen, mit einem vielsagenden Blick in meine Richtung.
Ich stand auf und folgte ihm. »Wenn du die Nase voll hast von deinem Job hier, dann weiß ich einen Ort, wo sie noch eine Stelle als Türsteher frei haben. In der Hölle.«
»Ciao, du Arschloch.«
»Stimmt, genau da hat es weh getan!«
Wir grunzten einander zu wie zwei alte Boxer, deren Wege sich vor dem Weinmonopol kreuzen.
Er begleitete mich ganz hinaus und schloß die Tür hart hinter mir, was klang wie ein lauter Punkt am Ende eines langen und unfreundlichen Satzes.